Bibel: Mächtige Ohnmacht 

Es fällt mir noch immer schwer zu glauben, aber Donald Trump wurde am 20. Januar zum zweiten Mal Präsident der USA. Demokratisch gewählt. Die Mehrheit der Bevölkerung vertraut eines der mächtigsten Ämter der Welt einem Politiker an, der nachweislich Menschen belügt, übelst beleidigt, aufhetzt und demokratische Regeln mit Füssen tritt. Der Stil ist erfolgreich und wird zunehmend auch in Europa kopiert. Schlimm genug. Dass dies aber bis in weite Teile der Christenheit Unterstützung findet, lässt mich ratlos zurück. Die Sympathien für solches Machtgehabe stehen für mich im Widerspruch zu einer Kirche, die zur mächtigen Ohnmacht berufen ist.

(Lesezeit: 9 Minuten)

(Bild: Kar3nt auf Pixabay – mithilfe von KI erstellt)

Macht hat häufig einen schlechten Ruf. Doch Macht an sich ist weder gut noch schlecht. Als Beziehungsbegriff verweist «Macht» auf das Einflussverhältnis zwischen Menschen. Daran erinnert auch die klassische Definition des Soziologen Max Weber: «Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht1.» Macht weiss sich also durchzusetzen und ermöglicht dadurch Bewegung. Da dabei Macht auch missbraucht werden kann, sollte der Umgang mit Macht gerade aus christlicher Perspektive sorgfältig reflektiert werden.

 

Gottes wirksame Macht

Gott handelt mächtig. Im Alten Testament zeigt sich dies einerseits in der unbeschränkten Schöpfungsmacht Gottes2. Andererseits bezeugt das Exodusgeschehen, dass Gott in die Geschichte eingreift und seine Macht gegen die Kräfte der Unterdrückung einsetzt3. Im Neuen Testament wird die wirksame Macht Gottes in besonderer Weise in der Aufweckung Jesu von den Toten ersichtlich4. Dieses machtvolle Handeln Gottes in Schöpfung und Geschichte bilden die Grundlage für einen dankbaren und vertrauensvollen Lebensstil. Das griechische Wort pantokrator – All-/Weltenherrscher – findet sich denn auch vorwiegend in der Offenbarung, die in turbulenten Zeiten primär als Trost- und Hoffnungsbuch geschrieben worden ist.

Die Bibel nährt den Glauben an einen Gott, dessen Macht menschliche Macht begrenzt und bestehende Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen vermag5. Menschliche Macht ist daher immer geliehene Macht und muss in Verantwortung vor Gott ausgeübt werden. Wo (mächtige) Menschen dies vergessen, überschätzen sie sich masslos.

 

Gott verzichtet auf Macht

In den Versuchungsgeschichten6 wird Jesus ökonomische, religiöse und politische Macht angeboten. Das damit verbundene Machtpotenzial ist verführerisch, liesse sich doch damit viel Gutes bewegen. Doch für Jesus wäre dies mit Machtmitteln verbunden, die dem Weg einer radikalen Gottes-, Nächsten- und Feindesliebe widersprechen. Mit diesem Machtverzicht entscheidet sich Jesus für eine Form der Ohnmacht, die in besonderer Weise am Kreuz zutage tritt. Im Gespräch mit Pilatus verweigert sich Jesus den gängigen Machtspielen7. Pilatus offenbart dabei, worauf seine Macht gebaut ist: auf Gewalt. Wer sich seiner Macht widersetzt, wird gefoltert und wenn dies nichts nützt, getötet. Jesus verzichtet dagegen auf seine Macht8, entlarvt aber gerade als ohnmächtiges Opfer politischer und religiöser Macht die destruktiven Machtsysteme und triumphiert so über sie9.

 

Vollmacht und Kraft

Mit der Auferweckung Jesu am Ostermorgen bestätigt Gott diesen Weg der mächtigen Ohnmacht. Dem auferstandenen Christus hat Gott alle Vollmacht im Himmel und auf der Erde gegeben10. Diese Herrschaft Christi entspringt nicht der Logik menschlichen Machtdenkens und -handelns, sondern ist eine Folge seiner ohnmächtigen Liebe, die vergibt, anstatt zurückzuschlagen. Durch den Glauben an Christus haben Menschen Anteil an dieser göttlichen Vollmacht11 und sind ihrerseits für den Dienst in dieser Welt bevollmächtigt12. Sie haben das Recht, im Namen Christi zu handeln und können dies tun, weil in ihnen dieselbe Macht am Werk ist, die Christus von den Toten auferweckt hat13.

 

Kompetenz der Ohnmacht

Diese Macht zum Handeln basiert letztlich also nicht auf unseren, sondern auf Gottes Möglichkeiten. Geradezu kühn kann Paulus daher schreiben: «Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht […], denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark14

Diese mächtige Ohnmacht wird in der Bibel immer wieder eindrücklich beschrieben. Denken wir etwa an Gideon, der für sein Heer 22'000 Männer sammelt und davon wieder 21'700 nach Hause schicken muss. Oder an den ungleichen Kampf zwischen David und Goliath.

Ich glaube, dass wir aus einer biblisch-theologischen Perspektive das Bewusstsein für eine Kompetenz der Ohnmacht brauchen. Damit meine ich, dass wir einerseits unser Möglichstes tun, um unseren Dienst gut und kompetent auszuführen. Dazu braucht es menschliche Fähigkeiten inklusive einer kompetenzorientierten Ausbildung. Andererseits tun wir gut daran, wenn wir uns darin üben, unsere leeren Hände Gott hinzuhalten, damit er sie füllen kann. Es ist dies eine geistliche Übung, die uns davor bewahren kann, dass wir uns überschätzen und überfordern. Eine Kompetenz der Ohnmacht wendet sich in den eigenen Unmöglichkeiten an die Möglichkeiten Gottes. Sie legt den eigenen Glauben in den Glauben Jesu und vertraut die eigene Ohnmacht der Macht Gottes an.

 

Verlorene Machtansprüche

Diese Kompetenz der Ohnmacht muss meines Erachtens auch von der Kirche insgesamt neu eingeübt werden. Nach rund 1500 Jahren Christentum ist dies vielleicht schwieriger als zunächst gedacht. Mit «Christentum» meine ich hier eine historische Epoche, in der sämtliche Bereiche des Lebens christlich umhüllt waren und Menschen beinahe ausnahmslos zu Christen «gemacht» wurden.

Trugen Kirche und Staat in dieser Zeit ganz selbstverständlich dasselbe Gewand, emanzipierte sich die Aufklärung von dieser Uniformität und gab dem «christlichen» Abendland erste entscheidende Anstösse, sich seiner kulturell-religiösen Kleider nach und nach zu entledigen. Offensichtlich mit Erfolg, denn waren das Christentum und seine Institutionen jahrhundertelang die prägende Kraft für Gesellschaft und Kultur, ist heute der christliche Glaube bloss noch ein Sinnangebot auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten.

Die Selbstverständlichkeit des Christseins ist damit in unserer nachchristlichen Gesellschaft ebenso dahin wie jene Privilegien, die Angehörige einer dominierenden Staatsreligion gerne in Anspruch nehmen. Zunehmend an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, ist das Christsein auf seinen nackten Glauben zurückgeworfen.

 

Die Macht einer ohnmächtigen Kirche

Für die Kirche ist diese Nacktheit ungewohnt und irritierend. Es erstaunt daher nicht, dass mancherorts der Ruf nach den alten Kleidern zu vernehmen ist, die den verlorenen Einfluss des Christentums zurückbringen mögen. Dabei besteht vielleicht gerade im Verlust der gesellschaftlichen Machtposition die Möglichkeit, dass Christsein wieder «jesusähnlicher» werden kann. Die gegenwärtige Nacktheit der Kirche ist nicht zwingend eine Demütigung, sondern verweist Christen gerade auf ihre ursprüngliche Bestimmung. Und die liegt nicht in einer unheilvollen Allianz von Kirche und politischer Elite, sondern in einem mutigen und doch verletzlichen Christsein, das sich konsequent am Leben Jesu orientiert. Das gilt auch für ihren Umgang mit Macht, der dann vor allem als Dienst verstanden werden muss. Eine dienende Macht wird sich daran messen lassen müssen, inwiefern sie sich für die Schwachen und Geringen einsetzt, Menschen ermächtigt und ungesunde Machtgefälle ausgleicht.

Lüge, Machtgehabe und Gewalt üben derzeit in vielen Gesellschaften eine toxische Faszination aus. «Wir zuerst» ist ein verlockendes Heilsversprechen. Es ist zu befürchten, dass dabei einmal mehr die Schwächsten einer Gesellschaft unter die Räder kommen. Nationalistische Machtfantasien und -spiele sind für die Kirche Jesu Christi daher keine Option. Folgt sie ihrem Herrn, wird sie in den Augen gängiger Machtvorstellungen zwar häufig ohnmächtig erscheinen, hat aber gerade dadurch Anteil an der Macht Jesu. Oder wie es Wolfgang Vorländer sagt15: «Die wahre Kirche lebt äusserlich gesehen als Schar der Ohnmächtigen, Armen, Wehrlosen, Unbeachteten, zum Scheitern Verurteilten. Und ihr ist nicht verheissen, je etwas anderes zu sein oder zu werden, bis ihr Herr in Macht erscheint. Darum hat sie ihre Ohnmacht entschieden zu bejahen – und wenn sie dadurch noch so oft angefochten wäre!» 

 

1 Max Weber. «Wirtschaft und Gesellschaft.» Tübingen, 1922, S. 28

2 Jeremia 32,17

3 Jeremia 32,20

4 1. Korinther 6,14

5 Lukas 1,46-55

6 Matthäus 4,1-10

7 Johannes 19,8-11

8 Matthäus 26,53

9 Kolosser 2,15

10 Matthäus 28,18

11 Johannes 1,12

12 Matthäus 10,1

13 Epheser 1,19f

14 1. Korinther 12,10 (EÜ)

15 Wolfgang Vorländer. «Gelebte Hoffnung: Perspektiven eines messianischen Lebensstils.» Neukirchen-Vluyn, 1988, S. 154-155

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