Migration: Du sollst nicht lügen in der Asylpolitik

Häufig sagen wir die Wahrheit, aber durchschnittlich lügt jeder 25 Mal am Tag. In bestimmten Situationen lassen wir Informationen weg oder geben sie nicht korrekt wieder(1). Das ist jedenfalls das Ergebnis einer Studie. Ist das Gebot, nicht zu lügen, deshalb nicht überflüssig, wenn Lügen zum menschlichen Dasein gehören, wie der Miststock zur Kuhwirtschaft? 

(Lesezeit: 8 Minuten)

Wörtlich lautet das 9. Gebot: «Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen2.» Ursprünglich bezog sich das Gebot auf Zeugenaussagen vor Gericht. Im alten Israel hatte das Abgeben falscher Zeugenaussagen verheerende Folgen. Wer in einem Rechtsstreit log oder falsche Anschuldigungen erhob, gefährdete dadurch in existenzieller Weise das Leben oder das Wohl eines anderen Menschen. Das 9. Gebot zielte in besonderem Mass auf den Schutz sozial schwächer gestellter Menschen ab, damit diese vor Gericht nicht der Willkür der gesellschaftlich Starken und Mächtigen ausgeliefert waren. 

(Bild: Rosy / Bad Homburg / Germany auf Pixabay)

Der Sinn der Zehn Gebote

Gebote und Verbote lassen an Begrenzung und Verhinderung von Lebensmöglichkeiten denken. Doch eigentlich sind die Zehn Gebote Wegweiser zu einem guten Leben. Sie sollen die Freiheit und Würde der Menschen schützen und mehren. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Gebote nicht für Gott, sondern in erster Linie für die Menschen da sind. Gott wird aber geehrt, wenn seine Geschöpfe geehrt und geachtet werden. Wie oben ausgeführt, hatten die Gebote in der damaligen Zeit zum Ziel, die Freiheit und Würde von Armen, Witwen, Waisen und Fremden zu schützen, also von Menschen, die schwierige Lebensbedingungen hatten und wenig Schutz von Seiten der Gemeinschaft erfuhren. Für diese Menschen ergreift Gott in besonderem Mass Partei.

 

Ächtung der Lüge

Das 9. Gebot fordert dazu auf, keine Lügen oder Unwahrheiten über andere zu verbreiten. Lange wurde die Lüge im gesellschaftlichen und politischen Leben geächtet, vor allem dann, wenn sie entlarvt wurde – zumindest in der westlichen, demokratisch regierten Welt. In autokratisch geführten Ländern ist aufgrund fehlender Meinungs- und Pressefreiheit die Lüge Teil des Systems. Wenn Meinungen unterdrückt und die Freiheit eingeschränkt wird, öffnet das der Lüge Tür und Tor.

 

Die Lüge als Belanglosigkeit

Im Jahr 2016, nach der ersten Wahl Donald Trumps zum mächtigsten Mann der Welt, bröckelte in der westlichen Welt der Konsens, dass eine offensichtliche Lüge im politischen Leben etwas Verwerfliches sei, das in der Regel sanktioniert werden würde. Die Lüge wurde im demokratischen Westen salonfähig, und heute scheint sie nur noch eine Belanglosigkeit zu sein. Das ist nicht allein Trumps «Verdienst». Social Media bereitete diese Entwicklung schon seit vielen Jahren vor, indem das Internet mit Falschmeldungen, Lügen und Verschwörungstheorien geflutet werden konnte, ohne dass gleichzeitig griffige Rezepte entwickelt wurden, um diese für unsere westlichen Gesellschaften katastrophale Entwicklung einzudämmen. Was passiert mit einer Gesellschaft, die nicht mehr nach Wahrheitsansprüchen ringt?

 

Sündenböcke

Die ersten, die in einer Gesellschaft unter Lügen leiden, sind Menschen, die sich schlecht gegen Verleumdungen und Unwahrheiten wehren können. Damit wird der Bogen zur alten Zeit wieder geschlagen. Um in einer Gesellschaft Ängste und Wut über echte und eingebildete Probleme zu kanalisieren, wurden bereits in alter Zeit Sündenböcke gesucht – und das hat sich bis heute nicht geändert. Fremde und Flüchtlinge eignen sich dazu in idealer Weise: Sie können sich schlecht wehren, und so dienen sie als Projektionsfläche für fast jedes gesellschaftliche Übel.

 

Gut kaschierte Lügen

Seit Jahren werden in der Schweiz im Zusammenhang mit Migration Falschmeldungen verbreitet. Dabei werden wichtige Fakten weggelassen und unwichtige Informationen aufgebläht. Flüchtlinge werden zu Sündenböcken für fast alle gesellschaftlichen Probleme erklärt: Wohnungsnot, Zubetonierung der Landschaft, Wohlstandsverlust, Kriminalität, Probleme im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich. Dazu SVP-Präsident Marcel Dettling: «Die Asylpolitik hat ein Ausmass erreicht, das nicht mehr erträglich ist3

Das renommierte digitale Magazin «Republik» hat vorgerechnet: «Die Einwanderung von Asyl- und Schutzsuchenden machte zwischen 2014 und 2023 lediglich rund 12 Prozent des gesamten einwanderungsbedingten Bevölkerungswachstums der Schweiz aus.» Ohne die Schutzsuchenden aus der Ukraine sind es rund 7 Prozent4. 88% der Einwanderung wurde demnach durch die von unserer Wirtschaft geforderte Arbeitsmigration verursacht, und die einwanderungsbedingten Probleme wie Wohnungsknappheit, zusätzliche Infrastrukturen usw. gehen hauptsächlich zu ihren Lasten. Gezielt wird diese Information vorenthalten, um Flüchtlinge in Misskredit zu bringen.

 

Flüchtlinge schlechtreden: Vorläufig aufgenommene Asylsuchende

Das eine ist, Flüchtlinge für alle Probleme verantwortlich zu machen. Das andere ist, sie gezielt zu diskreditieren. Flüchtlinge mit F- oder S-Status gelten als vorläufig aufgenommen. Sie sind aus Ländern geflüchtet, in denen Kriege oder repressive, autokratische Strukturen herrschen. Es sind Menschen, die zwar keine direkte Flüchtlingsanerkennung nach der sehr engen Definition der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten, aber dafür einen Schutzstatus gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bekommen. Sie wären gegenwärtig bei einer Rückkehr gefährdet, und eine Wegweisung aus der Schweiz ist unzulässig, unzumutbar oder unmöglich. Eine Zurückweisung würde einen Verstoss gegen geltendes Völkerrecht darstellen.

Vorläufig aufgenommene Menschen sind häufig Kriegsflüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan, dem Sudan, bis vor kurzem Syrien oder der Ukraine. Diese Kriegsflüchtlinge werden von gewissen politischen Kreisen gezielt schlechtgeredet. SVP-Ständerätin Esther Friedli betonte in einer Motion am 30.5.2024: «Vorläufig Aufgenommene sind Personen, die aus der Schweiz weggewiesen wurden …» FDP-Parteipräsident Thierry Burkart fordert: «Abgewiesenen Asylsuchenden, die vorläufig aufgenommen werden, muss der Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem deutlich eingeschränkt werden5 …» Wenn vorläufig aufgenommene Asylsuchende zu «Abgewiesenen» und «Weggewiesenen» erklärt werden, so ist das einfach falsch oder noch deutlicher gesagt: eine Lüge. Sind ukrainische Kriegsflüchtlinge aus der Schweiz weggewiesen worden? Nochmals: Vorläufig Aufgenommene haben den Schutzstatus gemäss EMRK und daher einen positiven Asylentscheid, wenn auch nur auf Zeit. Die meisten bleiben aber für immer, da sich die Verhältnisse in ihren Herkunftsländern nicht bessern. Die Etikettierung als «Abgewiesene» oder «Weggewiesene» führt dazu, dass diese Gruppe in unserer Gesellschaft unter Generalverdacht gestellt wird: «Achtung, das sind keine wirklichen Flüchtlinge!»

 

Lügengeschichten bekämpfen

Unter Lügen leiden zuerst die Schwächsten einer Gesellschaft. Aber nicht nur sie: Geht einer Gesellschaft das Einfühlungsvermögen und Mitgefühl verloren, leiden am Ende alle. Lügen gefährden nicht nur einzelne Menschen, sie zersetzen mit der Zeit eine Gesellschaft als Ganzes: Das Rechtsgefühl wird verletzt, Willkür breitet sich aus und das Recht des Stärkeren setzt sich durch. Wehren wir uns deshalb entschieden gegen Lügengeschichten in Politik und Gesellschaft!

 

1 NZZ, 8.12.2018, Rechtspsychologin Revital Ludewig

2 2. Mose 20,16 (Einheitsübersetzung 2016)

3 NZZ, 5.8.2024, Interview mit Marcel Dettling

4 Republik, 13.1.2024, Lukas Häuptli

5 NZZ, 2.9.2024, Interview mit Thierry Burkart

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