Umweltethik: Was der «No Impact Man» von Zachäus lernen kann 

Colin Beavan aus New York hatte eine Vision: Ein Jahr ohne Umweltschaden! Er nannte sich «No Impact Man». Gänzlich ohne ökologischen Fussabdruck zu leben ist hart: Kein Abfall, kein Auto, kein Lift. Auch kein WC-Papier. Er trieb es auf die Spitze.

(Lesezeit: 10 Minuten)

Seine Radikalität war grossartig. Aber: sie war unbalanciert. Er tat alles, um negativen Impact zu vermeiden – und nichts, um positiven Impact hervorzubringen. Während er krampfhaft versuchte, selbst so wenig Schaden wie möglich zu verursachen, hat er kaum etwas getan, um aktiv Umweltprobleme zu beheben. Das Ziel war, so wenig auf die Umwelt einzuwirken, als wäre er nie geboren.

(Bild: Enrique auf Pixabay)

Ich und mein Nächster

Aber während er bei Kerzenlicht seinen stromfreien Wecker aufzog, flogen gleichzeitig Klimaforscherinnen um die Welt, bauten Clean-Tech-Firmen Fabrikgebäude aus Zement und trafen sich Umweltaktivisten in ölbeheizten Räumen. Sie alle verursachten Schaden – aber sie verhinderten oder behoben auch ungleich grösseren Schaden. Mit Jesus1 können wir fragen: «Wer von diesen ist den Klimaopfern am besten zum Nächsten geworden?» Der No Impact Man oder die Leute, die sich die Hände dreckig gemacht haben, um andern zu helfen?

Letztlich hat auch der No Impact Man erkannt, dass er seine negativen Auswirkungen nie gänzlich auf Null herunterfahren kann. Deshalb hat er sich entschieden, den kleinen verbleibenden negativen Impact wettzumachen, zum Beispiel mit Abfallsammeln am Flussufer. Aber wenn er schon dabei ist, positiven Impact hervorzubringen, warum sollte er dann nur gerade so viel Abfall sammeln, dass es seinen negativen Impact wettmacht? Am Schluss hat er selbst anerkannt, dass sein Potenzial, Schaden herunterzufahren, begrenzt ist – im Gegensatz zu seinem Potenzial, Gutes zu tun2. Dieses ist unbegrenzt.

 

Schaden vermeiden und Gutes tun – die philosophische Perspektive

Wenn wir es ganz genau nehmen, so ist es wohl tatsächlich in gewissen Hinsichten ein Stück weit ethisch problematischer, selbst aktiv zu schaden als passiv das Gute zu unterlassen. Aber sogar wenn Tun und Unterlassen ethisch gesehen nicht exakt gleich relevant sind, so neigen wir doch intuitiv dazu, das Tun viel negativer als das Unterlassen zu sehen. Diese verzerrte Sicht ist aus mindestens zwei Gründen problematisch.

Erstens sollten wir immer von den Betroffenen her denken. Für die Klimaopfer ist es egal, ob sie ihr Haus verlieren, weil jemand die eigenen zehn Tonnen CO2 nicht auf Null gebracht hat oder weil es jemand unterlassen hat, zehn Tonnen CO2 auf anderem Weg – zum Beispiel mit politischem Engagement, Forschung an sauberen Technologien oder Kompensationen – zu verhindern. Wenn wir nur schon hundert Franken pro Jahr für solche Klimafortschritte spenden würden,  so würden wir damit wohl mehr – womöglich sogar viel mehr – für die Klimaopfer erreichen, als wenn wir unsere eigenen Emissionen radikalerweise auf Null brächten.

Für möglichst wirksame Klimaspenden empfehle ich die sorgfältig evaluierten Empfehlungen von «Effektiv Spenden»3. Die obige Milchbüchleinrechnung beruht auf den folgenden Annahmen. Erstens: pro Kopf stossen wir etwa zehn Tonnen CO2 aus; zweitens: via MyClimate kann eine Tonne für 25 Franken reduziert werden; drittens: MyClimate ist eine hervorragende Organisation, aber sie muss noch weitere Kriterien erfüllen als nur möglichst viele Tonnen pro Franken zu reduzieren. So muss MyClimate die Wirkung zum Beispiel auch solide und quantitativ belegen können. Das schliesst einige sehr wirksame, aber schwer belegbare Massnahmen aus. Wenn man diese miteinbezöge, so könnte man pro Franken wohl noch einiges mehr als MyClimate erreichen.

Weil Gutes tun bei gleichem Aufwand oft mehr erreicht als Bemühungen, den eigenen Schaden zu minimieren, macht es Sinn, sogar mehr Betonung darauf zu legen, Gutes zu tun.

Hinzu kommt, dass es letztlich unklar ist, ob es wirklich einen grundlegenden Unterschied zwischen Tun und Unterlassen gibt. Wir sind mit dieser Unklarheit aus den Euthanasiedebatten vertraut: Wenn wir das Beatmungsgerät abschalten, haben wir dann aktiv jemanden getötet oder haben wir es «bloss» unterlassen, eine Person am Leben zu erhalten? Womöglich ist diese Grauzone kein Spezialfall, sondern ein Symptom dafür, dass es letztlich keinen fundamentalen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen gibt. Und sogar wenn es letztlich einen Unterschied gäbe, so ist es in unserer heutigen komplexen Welt sehr schwierig, die Grenzen zwischen Tun und Unterlassen zu bestimmen. Wenn wir Zölle auf afrikanische Importe erheben, stossen wir damit Bauern aktiv in die Armut oder unterlassen wir es «bloss», ihnen ein Einkommen zu ermöglichen?

 

Schaden vermeiden und Gutes tun – die christliche Perspektive

Als Zachäus begeistert Jesu Ruf folgte, versprach er nicht nur, betrogenes Geld – das heisst aktive Schädigung – vierfach zurückzuerstatten, sondern auch die Hälfte seines Besitzes den Armen zu geben, also Gutes zu tun4. Im Lukasevangelium folgt auf die Zachäusgeschichte das Gleichnis von den anvertrauten Talenten. Jesus kritisierte den Mann, der das Geld aus lauter Angst, etwas falsch zu machen, vergrub. Er hätte ja schliesslich aus dem Geld etwas Gutes herausholen können5!

Sowieso gelten einige der harschesten Worte von Jesus den Unterlassungssünden: In Matthäus 25 erben diejenigen das Reich, die die Hungrigen gesättigt und die Nackten gekleidet haben – und nicht einfach diejenigen, die kein Essen oder keine Kleider gestohlen haben. Ja, der Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos setzt es mit Diebstahl gleich, wenn wir unsere Güter nicht mit den Armen teilen. Seine Worte finden sich sogar im Katechismus der katholischen Kirche wieder, genauso wie ähnlich harsche Vergleiche in Luthers grossem Katechismus zu finden sind6. In 5. Mose 22 wird die vertraute Idee, Eigentum und Leben durch Unterlassen von Diebstahl oder Mord zu schützen, ergänzt durch aktive Massnahmen zu deren Schutz. Kurz: Aus biblischer Perspektive besteht Nächstenliebe nicht bloss darin, auf Schaden zu verzichten, sondern darüber hinaus andern aktiv zu helfen – auch dann, wenn ihre Not nicht meine Schuld ist, sondern die Schuld Dritter, ihre eigene Schuld oder niemandes Schuld.

Unsere intuitive Überbetonung des aktiven Schadens mag mit unserem menschlichen Bedürfnis zu tun haben, genau feststellen zu können, ob wir auch ja saubere Hände haben. Klassische Schuldbekenntnisse aus der gottesdienstlichen Liturgie halten uns aber vor Augen, dass die viel schwerer fassbare Aufgabe, Gutes zu tun, ebenso wichtig ist:

«Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine grosse Schuld.»

 

Ist das alles überhaupt wichtig?

Das alles ist nicht bloss trockene Theorie. Für die Opfer unserer ungerechten Welt ist es lebenswichtig, dass wir – Menschen mit Geld, Bildung und Einfluss – aufhören, einseitig den Fokus auf Schadensvermeidung zu setzen.

Hier sind drei Beispiele, die zeigen, wie wir die Betonung auf Gutes tun verschieben können:

  • Durch vegetarisches Essen (Schaden vermeiden) können wir Tiere schützen, aber indem wir die Erforschung alternativer Proteine mit Spenden unterstützen (Gutes tun)7, können wir viel mehr Tiere schützen.
  • Durch Konzernverantwortungsinitiativen und Fairtrade (Schaden vermeiden) können wir Menschen in Armut unterstützen, aber indem wir die Wirtschaft in armen Ländern ankurbeln (Gutes tun), können wir viel mehr Menschen aus der Armut befreien.
  • Durch plastikfreien Einkauf (Schaden vermeiden) können wir Umweltschäden verhindern, aber durch globale politische Kooperation im Abfallmanagement (Gutes tun) können wir viel mehr Umweltschäden verhindern8.

Zum Schluss: «Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer; aber wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott9.» Lassen wir uns vom zweiten Teil dieses Bibelworts gerade so fest leiten wie vom ersten Teil – besonders, wenn wir damit so viel mehr erreichen können!

 

1 Lukas 10,36

2 Colin Beavan. «No Impact Man: The Adventures of a guilty liberal who attempts to save the planet and the discoveries he makes about himself and our way of life». New York, 2009, Farrar, Straus and Giroux, S. 205.

3 https://effektiv-spenden.org/effektiver-klimaschutz/

4 Lukas 19,8

5 Lukas 19,23

6 Siehe katholischer Katechismus in https://www.clerus.org/bibliaclerusonline/de/dvx.htm, bzw. im lutherischen Katechismus: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Grosser-Katechismus-Unser-Glaube.pdf. Luther stützt sich vierhundert Jahre vor Peter Singer dabei unter anderem auch auf das Beispiel eines Ertrinkenden: «Das ist, als ob ich jemanden sähe, der in tiefem Wasser gegen das Ertrinken ankämpft (...), und ich könnte ihm die Hand reichen, ihn herausreissen und retten, aber täte es doch nicht – stünde ich nicht vor aller Welt als Mörder und Bösewicht da?»

7 Zum Beispiel das vom Christen Bruce Friedrich gegründete und geleitete Good Food Institute, siehe: https://effektiv-spenden.org/the-good-food-institute/

8 https://ourworldindata.org/plastic-pollution?insight=better-waste-management-is-key-to-ending-plastic-pollution#key-insights

9 Sprüche 14,31

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