Die ersten Eindrücke, die man beim Besuch der Ausstellung Ugo Rondinone «Cry me a river» im Kunstmuseum Luzern (bis 20.10.2024) erhält, reichen von glücklichem Erstaunen bis zu angenehmer Verzauberung. Die Ausstellung ist mit den Dimensionen des Raumes inszeniert, wobei die Werke die Wahrnehmung des Betrachters verändern, indem sie ihn in ein ständiges Wechselspiel von Gross-Klein, Wahr-Falsch, Natürlich-nicht-Natürlich versetzen. Das Ganze erscheint wie ein Buch in Kapiteln und Zitaten, dessen einziger Sinn es ist, schön und harmlos zu erscheinen.
Eine schöne Ausstellung …
Auf den ersten Blick würde man sagen: «Schön, dieses Kunstwerk» oder wie bei Fotos und Beiträgen in sozialen Medien mit «Ja, es gefällt mir» zu reagieren.
Wenn man das Museum verlässt, hat man das Gefühl, etwas gesehen zu haben, oder besser gesagt, eine Erfahrung gemacht zu haben, die auf das Schöne, das Angenehme zurückgeführt werden kann. Nicht mehr und nicht weniger.
Ist es heute der eigentliche Zweck der Kunst, uns eine schöne Erfahrung für die Sinne zu verschaffen? Auf welche holistische2 Bedeutung zielen die Skulpturen von Rondinone?
Die Krise der Schönheit
Es gibt heute eine Krise der Schönheit und ihres Begriffs, sowohl des Wertes als auch in der Wahrnehmung der Wahrheit, verstanden als der Wert des Wahren und Lebendigen. Das steht im Mittelpunkt der Kritik des deutsch-koreanischen Philosophen Byung-Chul Han in seinem Essay «Die Errettung des Schönen» (2015).
Byung-Chul Han versteht die zeitgenössische Kunst, wenn man sich an Beispielen erfolgreicher Künstler orientiert, neben der hoch handwerklichen Bearbeitung, als eine leere Inszenierung des Glatten. Das Glatte als Signatur der Gegenwart sei mit Querverbindungen zu Technologie, Politik, Massenkonsum und Kapitalismus auf die Frage der Ästhetik und des Seins ausgerichtet. Die Ausgangfrage von Han ist deswegen: Warum finden wir heute das Glatte schön?
Kontemplative Distanz
Wenn wir in die Geschichte schauen, sehen wir, dass jede Zeit ihre eigenen Schönheitsideale definiert hat. Zumeist ging es darum, was einer Gesellschaft wichtig war. Die Kunst ist immer ein Spiegel der Gesellschaft gewesen. Mit dem Beispiel der Skulpturen Jeff Koons, die sich mit hochglänzender Materialbeschaffenheit und gefälligen Motiven hervortun, präsentiert sich die Kunst als Konsumgut, ohne Vorwürfe oder Negativität, die eine intellektuelle Distanzierung erfordern würden.
Byung-Chul Han sieht die Sache etwas differenzierter: «Allein die Positivität des Glatten löst einen haptischen Zwang aus. Sie lädt den Betrachter zur Distanzlosigkeit, zum Touch ein.» Das sei das Gegenteil von dem, was uns die Philosophen der Geschichte beizubringen versucht hätten, von Platon über Kant, Heidegger und Gadamer: «Ein ästhetisches Urteil setzt aber eine kontemplative Distanz voraus. Die Kunst des Glatten schafft sie ab3.»
Kunst als Selfie
Die Zweideutigkeit und Inkongruenz der Fähigkeit, den Begriff der Schönheit zu definieren, liegt in der Beziehung zwischen Innen und Aussen. Im Grunde genommen reflektieren Koons' Skulpturen den Betrachter von aussen durch die gewölbte Oberfläche in einem Zerrspiegel, er versichert sich dadurch seiner selbst. Im Grunde definiert der Künstler selbst, dass seine Werke keine kontemplative Bedeutung haben, in einem ironischen Spiegelspiel findet der Betrachter die einzige Bedeutung in der Selbstreflexion und der eigenen Auffälligkeit. Kunst als Selfie.
Wie lässt sich Schönheit definieren und welche Funktion kann der Kunst zugeschrieben werden, wenn unsere Sinne durch den «pornografischen»4 Konsum von Bildern ohne Innerlichkeit und Engagement betäubt werden?
Was wahr ist, ist schön
«Dem Schönen wird heute jede Weihe genommen. Es ist kein Ereignis der Wahrheit mehr. Keine ontologische5 Differenz, kein Eros schützt es vor dem Konsum. Es ist ein bloss Seiendes, ein in seiner Selbstverständlichkeit bloss Vorliegendes und Vorhandenes. Man findet es einfach vor als Gegenstand des unmittelbaren Gefallens. Das Zeugen vom Schönen weicht dem Schönen als Erzeugnis, als Gegenstand des Konsums und des ästhetischen Gefallens6.»
Die Schönheit hingegen lädt zum Begehren ein, schränkt die Suche nach der Wahrheit ein, und nur in der Wahrheit liegt die Freiheit.
Während dem Fürst Miškin in Dostojewskis «Der Idiot» feststellt: «Die Schönheit wird die Welt retten», legt Han einen anderen Schwerpunkt, nämlich einen Appell auf ihre Erlösung: «Die Rettung der Schönheit bedeutet die Rettung dessen, was bindet und zu einer Verantwortung verpflichtet7.»
Letztlich hat die Rettung des Schönen nicht mit der Erlösung des Angenehmen zu tun, sondern mit der Versöhnung des Lohnenswerten. Gesagt mit einer Parallele zum befreienden Werk Christi und der Aufforderung, über den Schein der Dinge hinauszuschauen – die Realität zu transzendieren: Sind wir bereit, unsere Sinne zu wecken und aus unserer Komfortzone herauszutreten? Die Schönheit stellt sich auch als eine Frage nach der Wahrheit, die durch Geschlossenheit mutige Entscheidungen erfordert.
1 Das Bild zeigt den Kontrast zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Anachronismus und dem verlorenen Sinngehalt. Es ist eine Collage (Ready Made), welche die Flagellazione von Piero della Francesca heranzieht und sich mittels zeitgenössischer Elemente (Schnipsel) mit der Erfahrung des Schönen und der Sinnhaftigkeit auseinandersetzt.
2 Das Adjektiv holistisch bedeutet «ganzheitlich», «gesamtheitlich». Es beschreibt, dass ein Gesamtsystem berücksichtigt wird, statt nur einzelne Teile oder Aspekte.
3 Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015, S. 11
4 «Die Schönheit selbst wird pornografisch, ja anästhetisch»: Han wirft der konsumistischen Haltung bei der ästhetischen Erfahrung vor, sie sei pornografisch, weil dabei die Schönheit das Interesse, die Transzendenz und die Bedeutung der Einzigartigkeit des Objekts verliert und die «die Andersartigkeit des Anderen zerstört» und so in den Dimensionen des ethisch-moralischen Urteils vernichtet. (S. 77)
5 Ontologie ist ein überlieferter Begriff aus der Philosophie und steht dort für die Lehre vom Sein – genauer: von den Möglichkeiten und Bedingungen des Seienden – , ist also eng verwandt mit der Erkenntnistheorie, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wahrnehmens und Erkennens auseinander setzt.
6 wie 3, S. 96
7 wie 3, S. 97
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