Ein starker Treiber der Digitalisierung ist die Steigerung der Effizienz. Das bedeutet unter anderem, menschliches Eingreifen in einen Prozess und die zwischenmenschliche Interaktion in diesem auf ein Minimum zu reduzieren. Wenn Menschen eine Tätigkeit ausüben, ist dies aus Sicht einer digitalen Transformation kaum je effizient. Menschen erledigen Dinge nicht augenblicklich, sie sind nicht fehlerfrei und auch nicht permanent verfügbar. Prozesse, in denen Menschen beteiligt sind, lassen sich auch nicht beliebig digital erfassen, steuern und optimieren. Wenn eine Website oder ein Computerprogramm künftig für die doppelte Nutzerinnenanzahl zur Verfügung stehen soll, ist das üblicherweise ein einfach zu lösendes Problem. Die doppelte Menge an fähigen Fachkräften etwa in der Pflege oder im pädagogischen Bereich auszubilden und anzustellen, ist hingegen bedeutend schwieriger.
Der Reiz der Digitalisierung
Falls sich die menschliche Interaktion nicht komplett in Zahlen erfassen und so ersetzen lässt, besteht das Ziel häufig darin, die verbleibenden Menschen im Prozess so verfügbar wie möglich zu machen, damit sie nicht zum Flaschenhals des Prozesses werden. Vor wenigen hundert Jahren waren menschliche Interaktionen entweder auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt oder mit mühevollen Reisen verbunden. Wenn man sich für einen Briefkontakt entschied, musste man mit einer Antwortzeit von Tagen bis Monate rechnen.
Mit der Digitalisierung spielen Distanzen keine Rolle mehr: Eine Interaktion ist augenblicklich möglich. Auf eine Antwort warten muss man nur noch, wenn sich das Gegenüber «erfrecht», nicht sofort zu reagieren. Auch ist es kaum noch mit einem Mehraufwand verbunden, eine beliebige Anzahl von Empfängern auf einmal zu erreichen.
Wie machte es Jesus?
Wenn ich die Geschichte von Jesus studiere, wie sie uns in den Evangelien in der Bibel überliefert wurde, dann sehe ich dort andere Schwerpunkte: Jesus lebt ein scheinbar wenig effizientes Leben ohne Prozessoptimierung: Er hat für die Unmündigen und Randständigen Zeit, er lebt aus der Begegnung und sucht die menschliche Interaktion. Überraschenderweise hat er dann aber doch auch den Mut, nicht jederzeit verfügbar zu sein, nicht einmal für seine engsten Freunde.
Was könnten wir aus dem Leben Jesu für unsere Digitalisierungsprojekte lernen? Die Bibel gibt ja keine direkten Tipps zum Umgang mit dem Computer. Ich bin ein Digitalisierungsfreund und finde die Möglichkeiten der modernen Technik inspirierend. Um keinen Preis möchte ich in ein analoges Zeitalter zurück. Auch finde ich nicht jede menschliche Interaktion erhaltenswert. Wenn sie aus einem reinen Informationsaustausch besteht – wenn ich gerne ein Ticket von A nach B kaufen möchte – dann kann ich das gut auch mit meinem Smartphone erledigen. Schon anders sieht es aus, wenn Emotionen ins Spiel kommen. Wenn ich gerade meinen Laptop im Zug liegen gelassen habe, dann ist ein automatischer Telefondienst mit absolut undurchschaubarer Themenauswahl und unabsehbarer digitaler Warteschlange nicht dazu geeignet, mich zu beruhigen und mir ein gutes Gefühl zu geben. Ganz im Gegensatz zu einer empathischen Mitarbeiterin, die sich am Schalter meine Not anhört und sich engagiert meines Problems annimmt. Sie kann unkompliziert den Lokführer des entsprechenden Zugs kontaktieren, worauf dieser an der Endstation meinen Laptop im Zug sucht und ihn bei der Rückfahrt am Schalter abgibt.
Eine menschenfreundliche Form von Effizienz
Prozesse effizienter zu gestalten, das kann ja auch heissen, die Menschen am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Und da gäbe es noch viele interessante Möglichkeiten auszuloten: Warum bringen wir Mitarbeitende, statt sie in zentralen Büros abzusondern, nicht in einen öffentlichen Raum, wo sie für Begegnungen mit Menschen zur Verfügung stehen? Wenn eine solche Begegnung im Moment dann nicht nötig ist, ist ja dank Digitalisierung eine Teilnahme an der Arbeit in der Zentrale auch kein Problem, und die Verfügbarkeit dieser Mitarbeitenden für solche Begegnungen gesund und nachhaltig zu steuern, wäre eine digital lösbare Aufgabe. Etwas utopisch, aber um die Richtung zu weisen: Im Prinzip hat ja jede Firma und jede Behörde mit Mitarbeitenden im Home-Office Ansprechpersonen «in der Fläche», die prinzipiell bei Bedarf für eine analoge Begegnung von Mensch zu Mensch zur Verfügung stehen würden. Solche Begegnungen zu organisieren und orchestrieren – das kann digitale Technik hervorragend.
Digitalisierung darf nicht dazu führen, dass ich selbst immer verfügbarer werden muss, mir aber meine menschlichen Gegenüber im Alltag zunehmend abhandenkommen. What Would Jesus Digitize? Eine Leitfrage bei der Digitalisierung könnte also lauten: Wie kann ich die Technik so einsetzen, dass die Menge der ansprech- und nahbaren Personen zunimmt, ohne dass der einzelne Mensch dabei permanent verfügbar zu sein braucht?
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