«Ich habe im Theater […] Intendanten und Regisseure wie Claus Peymann, Peter Stein, Luc Bondy, Jürgen Flimm, Dieter Dorn kennengelernt. Das waren typische alte weisse Männer. Sie standen an der Spitze und hatten die Macht, die anderen anzuschreien, Leute ungerecht zu behandeln. Und irgendwie hat man das immer geduldet und gedacht: Es geht ja um die Kunst.»
Die alte Schule
Es ist ein hartes Verdikt, das der Schauspieler Michael Maertens über die Stars des Regietheaters der 1970er und -80er Jahre in einem kürzlich erschienen Interview in der NZZ1 ausspricht. Er gehört zu den bekanntesten deutschsprachigen Theaterschauspielern, spielte in seiner bald vierzigjährigen Karriere an den renommiertesten Häusern und ist seit etlichen Jahren Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater. Er weiss, wovon er spricht. Zugespitzt hierarchische Ordnungen, unkontrollierte Ausbrüche und intransparente Entscheidungsprozesse gehörten quasi zur DNA des Theaters; und nicht selten wurden Leitungspersonen, die sich dieser Unkultur entziehen wollten, nicht ernst genommen; Ensemblemitglieder mehr oder weniger kaltgestellt.
Es herrschten feudale Verhältnisse, wie Jörg Pohl, der heutige Co-Leiter der Schauspielabteilung des Basler Theaters 2019, ein halbes Jahr vor seinem Amtsantritt monierte2. Und leider ist es wohl noch immer so, dass an der Mehrzahl der Theaterhäuser mehr als nur Restbestände dieses überholten Führungsprinzips die Atmosphäre unter den Mitarbeitenden beeinflusst.
Umbruch mit Startschwierigkeiten
2019 und 2020 waren die Jahre, in denen es in der Schweizer Theaterlandschaft zu einem grossen Umbruch kam3. Auch an den beiden Zürcher Theatern Neumarkt und Schauspielhaus wurden neue Direktionen installiert. Und alle drei Häuser wollten sich an kollektiveren oder auch diverseren Formen des Zusammenarbeitens versuchen, wollten die Theater-DNA erneuern. Es gelang unterschiedlich gut. Am Schauspielhaus waren immer wieder herausragende Arbeiten zu sehen, es entstand aber auch der Eindruck, dass das Ensemble nie so richtig zusammenfand, dass es bisweilen auch an der Kommunikation zwischen der Leitung und den Schauspielerinnen und Schauspielern haperte und sich so nie eine starke gemeinsame Ausstrahlung entwickeln konnte. Und der (betriebswirtschaftliche) Erfolg blieb aus. Zum Ende der letzten Saison mussten die beiden Intendanten Nicolas Stemann und Sebastian Blomberg gehen.
Das Theater «Neumarkt» wiederum vermochte den Prämissen, unter denen die drei Direktorinnen antraten, treu bleiben. Es wurde zu einem Ort des vielfältigen Diskurses. Aber dabei geriet vielleicht doch die Ursprünglichkeit des Theaterspielens etwas unter die Räder der Komplexität. Nur ein Mitglied des Ensembles blieb dem Neumarkt über die gesamte Zeit der Intendanz treu.
Zusammen spielen
Wenn Andrea Bettini über seine Arbeit spricht, kommt er nicht ins Schwärmen. Er ist Mitglied der Basler Compagnie, so nennt sich die Schauspielsparte des Basler Theaters seit rund zwei Jahren. Wie Michael Maertens ist auch Bettini schon bald vier Jahrzehnte Schauspieler, auch er kennt die Theaterlandschaft aus dem Effeff, weiss, wie und von wem sie geprägt wurde. Vielleicht hat er sogar einen breiteren Erfahrungsschatz als Maertens: Er kennt auch kleinere Häuser und hat immer wieder in freien Theaterproduktionen mitgewirkt. In Basel ist er seit zwanzig Jahren tätig. Vier Intendanzen hat er erlebt, die jetzige Schauspieldirektion ist die siebte, unter der er spielt. Es ist die aussergewöhnlichste, und Bettini würde sich bestimmt verwahren, davon zu sprechen, dass er «unter» ihr spielt. Ihr ist es nämlich nachhaltig gelungen, die DNA zu verändern, das Zusammenwirken von Ensemble, Regie, Leitung und Dramaturgie neu zu denken und vor allem neu zu gestalten.
Wenn Bettini darüber redet, schwärmt er nicht, er spricht mit reflektierter Klarheit und grosser Überzeugung. Es scheint, als ob er endlich Arbeitsbedingungen erlebt, nach denen er sich seit seinen Anfängen am Theater der Roten Fabrik in Zürich gesehnt hat. Die beiden Dramaturginnen Anja Dirks und Inga Schonlau, der Regisseur Antú Romero Nunes und der Schauspieler Jörg Pohl – sie bilden zusammen die Schauspielleitung – haben es sich zur Aufgabe gemacht, die althergebrachten Macht- und Hierarchiestrukturen aufzubrechen. Von Anfang an wollten sie es vermeiden, dass die Spielerinnen und Spieler blosse Ausführende ihrer Vorgaben sind. Sie bezogen sie mit ein in die wesentlichen Entscheidungsfindungen, machten sie zu Mitverantwortlichen für den Spielplan und die Engagements der Regisseurinnen und Regisseure; und selbst die Besetzungen, das heikelste Thema im Theater, geschehen nicht ohne wesentliche Mitsprache derjenigen, welche jeden Abend auf der Bühne stehen. Man könnte von einem regelrechten Theaterwunder sprechen. Aber auch dem würde Andrea Bettini mit grosser Wahrscheinlichkeit widersprechen.
Mehr Arbeit als Wunder
Es ist nämlich ganz und gar nicht ein Wunder, was da in Basel gerade passiert, sondern das Ergebnis eines wohlüberlegten Veränderungswillens und das Ergebnis von aufwändiger und kontinuierlicher Arbeit: von unzähligen Ensemblesitzungen und leitungsinternen Weiterbildungen – und von regelmässigen gemeinsamen Workshops zur Art des Miteinander-Kommunizierens. Auch das will gelernt sein: Wie hören wir einander zu, was braucht es, um den andern nicht nur oberflächlich zu verstehen, wie wächst die gegenseitige Empathie? Eine rechte Herausforderung für einen Berufsstand, zu dessen Grundausstattung es gehört, zuallererst auf die eigene Kreativität zu vertrauen, sich selber immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen und die eigene Begabung zum Blühen zu bringen. «Ja, es gab einzelne Kolleginnen und Kollegen, die sich dem nicht stellen wollten, denen der Aufwand zu gross war», erzählt Bettini. Aber er erzählt auch, wie das Ensemble zusammengewachsen ist, wieviel an Zufriedenheit entstanden ist, an gegenseitigem Vertrauen und Respekt. «Es ist ein riesen Privileg, Teil dieses Projektes zu sein», meint er. Und er ist überzeugt, dass diese Verbundenheit auch in den Resultaten auf der Bühne spürbar wird, dass das Publikum merkt, dass da Menschen auf eine spezielle Art miteinander in einem schöpferischen Kontakt sind: «Wir haben eine besondere Kraft entwickelt». Eine Kraft, die auch über das Dreiländereck hinaus Wellen schlägt.
Die Basler Compagnie ist zu einem «Place to Be» geworden in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Und das nicht nur, weil seine Aufführung von Shakespeares «Sommernachtstraum» in der vergangenen Theatersaison zu einer der zehn wichtigsten Inszenierungen gekürt wurde. Es hat sich herumgesprochen, dass die überbordende Spielphantasie, welche nicht nur den «Sommernachtstraum» auszeichnet4, mehr als nur das Ergebnis hochbegabter Einzelkämpfer ist. Sie ist auch die Frucht einer neuen Verhältnisbestimmung der Zusammenarbeit in der Sparte Schauspiel des Basler Theaters. Einem Ort, wo die Schauspielerinnen und -spieler nicht mehr den Launen der Starregisseure ausgeliefert sind, sondern ernst genommen werden und gefragt sind als co-verantwortliche Künstler und Mitmenschen. Wer weiss, vielleicht entwickelt sich in Basel gerade eine neue DNA, eine neue Ära der Theaterarbeit.
1 https://www.nzz.ch/feuilleton/von-hamlet-bis-nawalny-michael-maertens-im-interview-ld.1856997, abgerufen am 25.11.2024
2 siehe Magazin Insist 4/19
3 dito
4 «Ein richtiges Theaterfest», meinte das Schweizer Radio SRF, ein «Ensemble zum Niederknien», schrieb die Berliner Morgenpost.
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