Menschen sind mit Würde zu behandeln. Nicht aufgrund dessen, was sie haben, sondern aufgrund dessen, was sie sind – Geschöpfe Gottes, geschaffen nach seinem Bilde. Es ist ein Widerspruch zu behaupten, dass wir Gott lieben, gleichzeitig aber die Armen als Menschen zweiter Klasse behandeln.
Was Jesus mit Unwürdigen tut
Dies geschieht leider oft auch in Verbindung mit religiösen Überzeugungen. Wer reich ist, ist von Gott gesegnet, wer arm ist, steht unter dem Fluche Gottes. Jesus hat den religiösen Menschen seiner Zeit einen Spiegel vorgehalten, indem er die Aussätzigen berührte. Das machte ihn nach dem jüdischen Gesetz unrein. Er lobte die Barmherzigkeit des Samariters, der sich um einen von Räubern Geschundenen kümmerte, dies im Gegensatz zu den religiösen Führern, die sich an diesem Unglücklichen nicht verunreinigen wollten. Er redete mit der Frau am Jakobsbrunnen – auch sie eine verachtete Samariterin, mit der er nach rabbinischem Gesetz nicht hätte reden dürfen. Er behandelte sie mit Würde, stillte ihren Durst nach Annahme und zeigte ihr den Weg zu einem liebenden und vergebenden Gott.
Menschen mit Würde behandeln heisst, sie ansprechen, ihnen in die Augen schauen, ihnen zuhören, sie berühren und sie segnen. Die geistliche Komponente macht die christliche Entwicklungszusammenarbeit ganzheitlich und einzigartig. Sie gilt allen Menschen, ungeachtet ihres religiösen Hintergrundes. Und sie sollte immer ein fester Bestandteil christlicher Entwicklungszusammenarbeit bleiben.
Unsere Motive hinterfragen
Arme Menschen mit Würde behandeln heisst, sie in ihrem Streben nach Eigenständigkeit zu unterstützen. Um sie nicht von unserer Hilfe abhängig zu machen, müssen wir unsere Motive in der Entwicklungszusammenarbeit überprüfen. Helfen wir aus Mitleid, spenden wir Geld, um ein gutes Gefühl zu bekommen oder engagieren wir uns beruflich für humanitäre Anliegen, um einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen zu können?
Arme Menschen wollen nicht bemitleidet, sie wollen ernst genommen werden. Mitleid reduziert Menschen auf ihre Bedürftigkeit und zementiert das Gefälle zwischen Helfenden und Notleidenden. Hilfe sollte immer die Autonomie der Unterstützten zum Ziel haben.
Wer arme Menschen finanziell oder durch Fachwissen unterstützt, sollte als Gegenleistung nicht Dankbarkeit einfordern. Oft wird an Hilfeleistungen die Erwartung geknüpft, dass die Empfänger der Hilfe die Konditionen der Geber diskussionslos akzeptieren. Widerspruch gegenüber der Art, wie die Hilfe geschehen soll, wird von den Gebern oft als Undankbarkeit verstanden. Dies ist eine verkappte Form von Bevormundung und untergräbt die Würde der Hilfeempfänger.
Der Wunsch, sich beruflich für Menschen in Not einzusetzen, ist nicht falsch. Allerdings kann das Empfinden, sich für eine sinnvolle Sache zu engagieren, erschüttert werden, wenn sich die erhofften Resultate nicht einstellen. Der daraus resultierende Frust entlädt sich dann oft in Schuldzuweisungen gegenüber den Hilfeempfängern. Das Wahren der gegenseitigen Würde auch im Scheitern ist eine hohe Kunst. Sie ist aber eine Voraussetzung für die so oft zitierte Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe.
Würdevolle Besuche
Im Rahmen meiner Tätigkeit als Geschäftsführer des Hilfswerks SELAM in Äthiopien habe ich 2022 drei Frauen unseres Unterstützungsprogramms für arme arbeitende Frauen in Addis Abeba besucht. Sie gewährten mir Einblicke in ihre beruflichen und familiären Verhältnisse und luden mich jeweils in ihre fünf Quadratmeter grossen Wellblechhütten ein. Ein Jahr später besuchte ich sie wieder. Ich wollte wissen, wie es ihnen geht und ob sich etwas verändert hat.
Ihre Freude war gross, als ich mit meiner Frau, meinem Sohn und seiner Verlobten wieder auftauchte. Eine Frau sagte mir, sie vergesse nie, was ich für sie getan hätte. Ich hätte sie besucht, trotz ihrer Armut. Von ihrer Familie sei noch niemand gekommen – diese schäme sich wegen ihrer prekären Verhältnisse. Und dann hätte ich auch noch für sie gebetet, und wir hätten zusammen geweint.
Eine andere Frau, sie ist alleinerziehende Mutter, berichtete mir stolz, dass es ihre Tochter an die Uni geschafft hatte.
Die ökonomischen Fortschritte dieser drei Frauen waren klein, aber ihre Gesichter strahlten, und sie waren voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wir umarmten einander beim Abschied – als seinen wir schon lange beste Freunde.
Der dreitägige Besuch des Geschäftsführers von SELAM in Addis, Solomon Chali und seiner Frau Kidist bei uns in der Schweiz hat mich ebenfalls viel über die Würde einer partnerschaftlichen Beziehung gelehrt. Da wir kein geeignetes Hotel in der Nähe unseres Wohnorts finden konnten, quartierten wir unsere Gäste bei uns ein und überliessen ihnen unser Schlafzimmer. Dies beeindruckte die beiden so sehr, dass sie es allen ihren Freunden in Addis erzählten. Für meine Frau und mich war das keine grosse Sache – für sie aber eine Form der Wertschätzung, die sie in dieser Form noch nie erlebt hatten in Europa.
Wir gingen auch auf ihren Wunsch ein, die Berge zu besuchen und luden sie aufs Stockhorn ein. Die Fahrt mit der Schwebebahn hinauf in luftige Höhen und der Besuch der Panoramaplattform auf der Nordseite des Gipfels mit einer atemberaubenden Aussicht aufs Berner Oberland, machte sie sprachlos.
Ihre Reaktion war eine Gegeneinladung nach Äthiopien, verbunden mit einer Führung zu den bezauberndsten Plätzen dieses wunderschönen Landes. Solomon war stolz, uns sein Land zu zeigen und wollte sich für unsere Gastfreundschaft revanchieren. So entstanden eine Freundschaft und eine Vertrauensbasis, welche die weitere Zusammenarbeit sehr viel einfacher macht. Die Herausforderung dabei ist für uns, die feine Linie zwischen freundschaftlicher Nähe und professioneller Distanz zu respektieren.
Zusammenfassend kann der würdevolle Umgang mit unsern Mitmenschen auf die einfache Formel reduziert werden: Behandle die Menschen so, wie du selbst auch behandelt werden möchtest.
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