Im Spitalzimmer kam ich mit dem freundlichen Mittsiebziger gegenüber ins Gespräch. Er hatte vor Jahren dem Tod ins Auge geblickt. Herzschwach genoss er, was ihm blieb. Ich fragte ihn, ob er sich mit der Weiterexistenz nach dem Tode befasst habe. Nein! Da gebe es nichts, sagte er erschütternd kaltblütig und abschliessend.
Andere Landsleute sind durchaus offen fürs Unsichtbare, fürs Jenseits. Sie sind ganzheitlich-spirituell unterwegs. Mir geht es hier aber um die Schweizerinnen und Schweizer, die sich als «spirituell» sehen, ohne erkennbar der Esoterik zu huldigen. Für manche tritt ihre persönliche Spiritualität an die Stelle des überkommenen Glaubens, sie ersetzt eine auf Tradition beruhende religiöse Überzeugung und Praxis.
Im Buch «Religionstrends in der Schweiz»1 haben Wissenschaftler die Entwicklung des Jahrzehnts vor der Pandemie untersucht. Sie konstatieren, «dass jede neue Generation etwas weniger religiös ist als die bisherigen. (…) Für die Individuen bedeutet die ständig zunehmende religiöse Säkularisierung und Individualisierung, dass sie ihren Lebenssinn zunehmend aus anderen, nichtreligiösen Quellen schöpfen2.»
Spiritualität ohne Transzendenz
Spiritualität wird im Buch weit gefasst. Laut Mitautor Jörg Stolz ist sie die «starke Bindung des Individuums … an eine transzendente Realität, eine soziale Gruppe, einzelne Menschen, moralische und wertmässige Überzeugungen, die Umwelt (eine Landschaft, Natur) oder das Selbst des Individuums». Kurz: «Spiritualität kann religiös, religiös-säkular hybrid oder säkular sein3»!
Die reformierten Kirchen haben seit Jahrzehnten ihre Zuwendung zur Welt betont, auch die Freiheit des einzelnen Gläubigen, selber zu denken und zu glauben. Im säkularen Sog hat dies aber kaum zu mehr engagiertem und selbstbewusstem Reformiert-Sein geführt, sondern vor allem zu mehr Gleichgültigkeit. Und anderseits zu selbstgestalteter, eigenwilliger «Spiritualität». Sie wird im Buch religionssoziologisch durchleuchtet.
Fitness, Wellness, Yoga, Extremsport …
Auf dem spirituellen Markt hat Yoga massiv zugelegt, vor allem bei Frauen. Junge Männer widmen sich inbrünstig dem Aufbau ihres «Bodys». Andere steigen senkrechte Felswände hoch oder stürzen sich in Wingsuits in die Tiefe. Täuscht der Eindruck, dass mehr und mehr Freizeitbeschäftigungen durchs Marketing als Wege zur Selbstverwirklichung spirituell aufgeladen werden – weil die Menschen auch im 21. Jahrhundert etwas suchen, dem sie sich hingeben, mit dem sie (sich) abheben können?
Dass die Wissenschaftler auch hybride und rein diesseitsbezogene säkulare Praktiken als spirituell qualifizieren, überrascht da nicht. «Insgesamt steigt die Zahl der Menschen, die sich als spirituell bezeichnen, unabhängig davon, ob sie einer Religion angehören oder nicht, ganz leicht an4.» Vor allem jüngere Schweizerinnen und Schweizer bezeichnen sich zunehmend als nicht religiös, aber spirituell5. Sie kehren der Landeskirche am häufigsten den Rücken.
Im letzten Jahr erklärten drei von hundert Aargauer Reformierten den Austritt aus der Kirche! In der alarmierenden Zahl kristallisiert sich eine Abwertung von «Religiösem». Das Wort «ist nicht mehr im Trend, vor allem nicht bei den jüngeren Generationen, die es als veraltet ansehen und oft negativ konnotieren im Zusammenhang mit institutionalisierter, strenger, konservativer Tradition6».
Mit mehr «Spiritualität» glücklich?
Zum Gesamtbild unserer Gesellschaft seit Corona gehört aber auch, dass erschreckend viele junge Menschen psychisch krank werden. Den Gründen kann hier nicht nachgegangen werden; die Tatsache allein ist Grund zur Sorge und fordert die Kirchen heftig heraus.
Sollte «Spiritualität» bei Herrn und Frau Schweizer tatsächlich die Praxis der Religion ablösen, mit der die Schweiz ihren Weg gemacht hat? Als Volkskirchen haben die einstigen Staatskirchen für einige Generationen in Dörfern und Städten tragende Gemeinschaft gestiftet – und dies umfassend, durch die Verehrung des Allmächtigen, durch Vermittlung von Sinn, Geborgenheit und Werten.
Die «Religionstrends» fordern uns heraus, diese Herausforderung neu anzupacken. (Und gewiss genügt Nostalgie dafür nicht.) Ich stehe jedoch unter dem Eindruck, dass das Buch nicht oder nur widerwillig zur Kenntnis genommen wird. Vielleicht weil es unangenehme Facts bringt, weil es bei der Analyse stehen bleibt und die ganze Wirklichkeit doch nicht erfasst.
Nach dem Tod – Leben?
Ein Ergebnis, das nicht zur Säkularisierungstheorie passt, registrieren die Autoren: Jene, die 1961–80 geboren wurden, glauben eher an ein Leben nach dem Tod als ältere Landsleute (zu denen mein Spitalnachbar gehört)7. Dies wird aber nicht mehr mit der Verkündigung der Kirchen, sondern mit Einflüssen der Populärkultur in Verbindung gebracht!
Es ist eine Schwäche von manchen reformierten Theologen, dass sie es nicht mehr wagen, postmoderne Lebensformen von der Bibel her einzuschätzen. Nach der Schrift ist doch klar: Wer den Gott des Himmels und der Erde nicht mehr anbetet, verfällt selbstgemachten Götzen, die ihn blenden8!
Die Chance der Kirche vor Ort
Das Evangelium stiftet Hoffnung, es eröffnet mit der Verkündigung von Jesus Christus Zukunft. Dem Gottesdienst ist nichts vorzuziehen9. «Er ist Quell des Lebens der Gemeinde und Zeugnis in der Welt10.» Ich freue mich über jede vitale Gemeinschaft, in der viele Freiwillige mitwirken.
Der Konfirmations-Unterricht, Taufgottesdienste und Abdankungen sind weiterhin eine grosse Chance. Eltern von kleinen Kindern sind offen für Impulse. Jugendliche ebenfalls, wenn sie denn echte geistliche Nahrung erhalten und geduldig und einfühlsam begleitet werden.
Im Strudel der Digitalisierung haben die Kirchen Wertvolles aus vergangenen Zeiten bewusst zu halten. Ihnen obliegt es, den in die Mitte zu stellen, der tatsächlich heilig ist. Da ist viel zu tun. Denn Jesus Christus ist der Lebendige, der unser Vertrauen belohnt, uns in dieser Zeit bewahrt und zum ewigen Leben führt!
1 Jörg Stolz, Arnd Bünker, Antonius Liedhegener, Eva Baumann-Neuhaus, Irene Becci, Zhargalma Dandarova Robert, Jeremy Senn, Pascal Tanner, Oliver Wäckerlig, Urs Winter-Pfändler: Religionstrends in der Schweiz, Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel, Springer VS, Wiesbaden 2022, 978-3-658-36567-7, Open access, Download https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-658-36568-4.pdf, Auszüge auf www.lkf.ch
2 A.a.O. S. 183, S. 185
3 A.a.O. S. 9
4 A.a.O. S. 46
5 A.a.O. S. 60. Dem gewandelten Verhältnis zu den beiden Begriffen ist im Band ein eigenes Kapitel gewidmet.
6 A.a.O. S. 61. Reden die beiden welschen Autorinnen des Kapitels vom Sprachgebrauch in der Romandie? Sie meinen, so sei es jüngeren Menschen möglich, «sich von früheren Generationen und deren geschlechtsspezifischen Vorurteilen abzusetzen».
7 A.a.O. S. 18
8 Jesaja 44,18
9 Dies hat der Theologe Jürg Buchegger im Pandemie-Kontext betont.
10 Zürcher Kirchenordnung, Art. 31,2
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