Medizin: Ein Plädoyer für die Vergänglichkeit

Während die Literaturwissenschaftlerin Anna Elsner bei ihrer Untersuchung des Sterbens in Film und Literatur den Trend festgestellt hat, dass der Tod in der postmodernen Spassgesellschaft nicht mehr ein Tabuthema ist, sondern man ihn heute geradezu als persönliches Projekt inszenieren möchte, glaubt die Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle, dass wir eine ernsthaftere Art des Umgangs mit unserer Vergänglichkeit brauchen, um den Sinn des Lebens nicht zu verpassen.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Für Anna Elsner ist der Tod ein zentraler Teil ihrer Forschung. Für sie persönlich ist das ein Gewinn, weil dies der Blick auf das Leben schärfe. Ihre Untersuchung zeigt aber, dass wir im Westen die Verantwortung für unser Sterben an die Medizin delegiert haben1. Wir haben Ruth Baumann-Hölzle dazu befragt.

Das Innere eines Sarges (Bild: PIRO auf Pixabay)

Ist die Inszenierung des Sterbens als persönliches Projekt eine Romantisierung des Themas – oder hat das, was Anna Elsner beschreibt, irgendwo auch seine Richtigkeit?

Es findet beides statt. Auf der einen Seite wird gerade die Selbsttötung manchmal als Event geplant und durchgeführt. Auf der anderen Seite wird die Sterblichkeit ausgeblendet. In der Forschung wird versucht, die Lebensspanne immer mehr zu verlängern und die Sterblichkeit ganz grundsätzlich zu bekämpfen.

Nach Yuval Noah Harari, dem Pop-Star unter den Historikern, wie ihn die NZZ einmal nannte, geht es darum, dass der Mensch die Sterblichkeit überwinden soll. Auch Transhumanisten verfolgen die Idee der Unsterblichkeit des von ihnen veränderten Menschen.

 

Ist die Selbsttötung eine Form von Inszenierung?

Vor allem der assistierte Suizid wird zum Teil inszeniert. Dasselbe geschieht in den Medien, etwa in Filmen wie «Ziemlich beste Freunde». Auf der anderen Seite gibt es eine Tabuisierung, weniger in Bezug auf die Sterblichkeit, aber gegenüber der Handlungsgrenze des Menschen. Wir wollen nicht hören, dass wir im medizinischen Bereich trotz allem immer wieder Handlungsgrenzen erfahren.

Zur Problematik gehört auch der folgende Aspekt: Wenn die Selbsttötung als Event inszeniert wird, darf man nicht mehr traurig sein. Ich habe das selbst erlebt, als eine Freundin von mir mit einem assistierten Suizid aus dem Leben schied. Daraus entsteht eine Art Zwang, dass der Tod das tragische Element verlieren muss.  Folglich darf man auch nicht mehr trauern.

 

Es gibt heute verschiedene medizinische Möglichkeiten, um das Sterben hinauszuschieben. Hilft uns das – oder macht es das Sterben sogar schwieriger?

Es ist auch hier beides. Früher starb der Mensch schnell und heftig und unter grossen Schmerzen. Heute gibt es einen längeren Weg, und wir haben gute Schmerzmedikamente. Wir kommen immer wieder an Wegscheiden, wo sich die Frage stellt: «Soll ich mich jetzt noch lebensverlängernd behandeln lassen – oder nicht?» Manchmal verpassen wir den Moment für ein gutes Sterben: wenn zum Beispiel eine Lungenentzündung nicht mehr behandelt wird, im Endstadium einer Demenzerkrankung oder bei einer fortgeschrittenen Krebserkrankung. Die letzten Tage sind jeweils die teuersten im Gesundheitswesen. Dies ist auch ein Hinweis auf Übertherapie am Lebensende. Hinter dem Hinausschieben steht die Weigerung, loszulassen und die Sterblichkeit anzuerkennen. Zudem besteht auch der ökonomische Druck im Gesundheitswesen, mit medizinischen Leistungen verdienen zu müssen und zu wollen.

 

Was wäre denn der richtige Moment zum Sterben?

Das ist die grosse Frage und Herausforderung. Sehr oft kann man das erst im Nachhinein beurteilen: «Wenn wir dies oder das in jenem Moment unterlassen hätten, wäre es zu einem anderen Sterbeprozess gekommen.» Diese Unsicherheit macht das Ganze sehr schwierig.

 

Sie sind Theologin. Also können wir das Ganze auch aus theologischer Sicht anschauen. Die medizinischen Möglichkeiten erlauben es, das Sterben sehr weit hinauszuschieben. Was wäre ein angepasster Umgang mit dem Sterben und dem Tod, gerade aus theologischer Sicht?

Der christliche Glaube hat einen sehr nahen Bezug zum Sterben und zum Leiden. Die Sterblichkeit und die Angst vor dem Sterben sind Wesensmerkmale, die zum Menschsein gehören. Auf der anderen Seite steht die Überheblichkeit der Meinung, dass wir die Sterblichkeit überwinden können.

Das Leben ist uns als Geschenk gegeben. Wir haben uns nicht selbst gemacht. Diesem Geschenk gegenüber haben wir eine gewisse Verantwortung. Etwa die Verantwortung, dass wir uns gesundheitsbewusst verhalten. Das erspart uns aber nicht die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit. Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit macht vieles im menschlichen Leben in seiner Ernsthaftigkeit besonders wertvoll. Angesichts eines ewigen Lebens auf dieser Welt wäre alles gleich viel wert. Im Bewusstsein des Sterbens kommt die Frage auf, was denn eigentlich zählt im Leben. Vor dem Hintergrund, dass wir sterblich sind und dass uns die Endlichkeit als Menschen vereint, können wir uns fragen, was unserem Leben eigentlich Wert gibt.

 

Wann kann man mit diesem Prozess beginnen?

Jetzt. Jederzeit. Auch als junger Mensch bin ich der Vergänglichkeit ausgesetzt. Vom Glück bis zum Traurigen wissen wir nicht, was in den nächsten Minuten mit uns geschieht. Natürlich gibt es je nachdem eine höhere oder geringere Wahrscheinlichkeit für das Sterben. Was aber ist, wenn Heilung nicht mehr möglich ist? Was heisst eine chronische Krankheit für mein Leben? Wie will ich mit Schmerz umgehen? Schmerzen können einen Menschen völlig verzehren und ihn der Fähigkeit berauben, selbstständig zu handeln. Zur Sterblichkeit gehören auch Krankheit und Verletzlichkeit.

Wir werden theologisch gesehen aufgefordert, den andern zu tragen, gerade angesichts seiner Verletzlichkeit. Dort, wo ein Kranker von seinen Freunden zu Jesus gebracht wird, sagt er: «Euer Glaube hat diesen Menschen gerettet.» Es ist also nicht der Glaube des Kranken. Wir sind aufgefordert, Menschen stellvertretend  zu tragen, wenn sie krank, sterbend und leidend sind. Sie zu Jesus Christus tragen und dort die Hoffnung auf Heilung in einem umfassenden, nicht nur körperlichen Sinn erfahren. Das ist nicht die Verantwortung des Kranken, sondern seines Umfeldes, das bereit ist, ihn mitzutragen. Und hier sehe ich eine sehr grosse Herausforderung in einer einseitigen Leistungsgesellschaft oder dort, wo Krankheit plötzlich zu einer Schuld wird und vergessen geht, dass wir als verletzliche Menschen darauf angewiesen sind, dass wir von anderen getragen werden, gerade dann, wenn es um Krankheit und das Sterben geht. Dieser Vergänglichkeitsprozess beginnt bereits, wenn wir auf die Welt kommen und den ersten Atemzug nehmen.

 

Ist es also entscheidend, dass wir ein Umfeld haben mit Menschen, die uns tragen können?

Vielleicht noch wichtiger ist der Blick auf die anderen: Wo bin ich gerufen, andere mitzutragen? Wenn ich mich in meinem Leben so orientiere und verhalte, besteht zwar keine Garantie, aber eine grosse Chance, dass auch ich einmal getragen werde.

 

Was wäre zusammenfassend Ihr wichtigster Hinweis für einen gesunden Umgang mit dem Sterben und mit dem Tod?

Das Bewusstsein, dass wir unser Leben nicht von uns selbst erhalten haben, sondern dass es ein vergängliches Geschenk ist. Und dass diese Vergänglichkeit in sich wieder ein Geschenk ist für ein sinnvolles Leben.

 

1 Der Tod wird heutzutage als persönliches Projekt inszeniert, Der Bund, 10. Dezember 2022

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