Am 30. September 2022, nach den Schlussabstimmungen der Herbstsession, wird Nationalratspräsidentin Irene Kälin die Glocke auf ihrem Pult erklingen lassen und die Sitzung schliessen. Für mich nach 12 Jahren im Nationalrat der letzte Sessionstag. Meine Zeit als Nationalrätin ist abgelaufen. Ich freue mich auf diesen neuen Übergang in meinem Leben. Trotzdem keimt die Frage: Wo wird all das Erlebte bleiben? All die Erfolge und die Niederlagen, die spannenden Begegnungen und die spektakulären Ereignisse? Wohin fliesst die Zeit von ganzen zwölf Jahren engagiertem Einsatz unter der Bundeskuppel? Was bleibt?
Den Weg weitergehen
Da kommt mir der barmherzige Samariter aus dem Gleichnis im Lukasevangelium in den Sinn. Für einmal nicht der theologischen Deutung wegen. Vielmehr wegen seines Umganges mit der Aufgabe, die er unverhofft übernommen hat: Er legt den Verletzten aufs Maultier, bringt ihn an einen sicheren Ort zur Betreuung und Pflege und kommt schliesslich auch für die anfallenden Kosten auf. Und dann geht er wieder seines Weges. Das ist Nächstenliebe pur.
Was hat das mit meinem Rücktritt zu tun? Nun, ich bin (trotz meines Samariterherzens) in den letzten 12 Jahren im rauen Gewühl der Politik gelandet. Und zwar mit dem Anspruch, auf der Grundlage der Nächstenliebe, dem Streben nach mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit die Gesellschaft mitzugestalten. Diese Aufgabe habe ich mit Hingabe erfüllt. Ich kann also getrost aufhören. Und jetzt wie der Samariter meines Weges gehen.
«Ja schon», sagt mir meine innere Stimme, «aber da ist doch so viel Begonnenes, Angebrochenes, Unfertiges, Stückwerk.» Müssen mich diese Gedanken kümmern? Einen guten Rat dazu finde ich bei Friedrich dem Grossen. «Servir et disparaître» hiess sein Motto: Dienen und Verschwinden. Und Blaise Pascal, der französische Mathematiker, Physiker, Literat und christliche Philosoph fand folgende beglückende Formulierung: «Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.»
Morgenbetrachtungen unter der Bundeshauskuppel
Ganz Gott überlassen möchte ich auch die Auswirkungen und die Bedeutung einer besonderen Art von Zusammenkünften im Bundeshaus. Seit über 40 Jahren versammeln sich während den Sessionen, jeweils am Mittwoch vor Sitzungsbeginn, Parlamentsmitglieder und zuweilen auch Gäste im Zimmer 287 des Bundeshauses zu einer zehnminütigen ökumenisch gehaltenen Besinnung.
Das Mitorganisieren dieser Kurzmeditationen während meiner Amtszeit war mir stets eine grosse Freude. Und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass diese Morgenbetrachtungen lückenlos während nunmehr über vier Jahrzehnten mit Wort, Stille und Gebet unter der Bundeshauskuppel ihren festen Platz haben.
Sie passen übrigens bestens zum Phänomen der «Wertediskussionen» in den Parteien und Räten. «Eine Wertediskussion wird in der Politik als dringend erachtet – doch Werte werden eher pauschal deklamiert als reflektiert,» schrieb René Rhinow, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität Basel in einem bemerkenswerten Aufsatz in der NZZ vom Dezember 2017. Er mahnte: «Werte sind in erster Linie zu leben. Sie verkümmern, wenn sie nicht beachtet werden.»
Bleibendes in der Verfassung
Die Besinnungen unter der Bundeskuppel waren und sind ein Ort der Achtung jener Werte, an denen sich die Begründer unseres Bundesstaates orientiert haben, als sie unsere Verfassung im Namen des Allmächtigen beschlossen.
Und es ist erfreulich, dass dieser Einstieg in unsere Verfassung auch nach meiner Zeit stehen bleibt. Eine Parlamentarische Initiative hatte in der Sommersession 2022 verlangt, in der Präambel der Bundesverfassung die Aussage «im Namen Gottes des Allmächtigen» zu streichen und das Wort «Schöpfung» durch «Umwelt» zu ersetzen. Dies, weil die Anrufung eines christlichen Gottes der Religionsfreiheit widerspreche und angesichts der zunehmenden Säkularisierung der Bevölkerung nicht mehr zeitgemäss sei.
Als Kommissionssprecherin entgegnete ich auf dieses Ansinnen: «In nomine Domini, in Gottes Namen und im Namen Gottes des Allmächtigen hat uns bereits seit 1291 begleitet. Damit wollten unsere Vorfahren, damit wollen auch wir zum Ausdruck bringen, dass kein König und keine Parteien die höchste Macht in der Schweiz innehaben. Indem wir uns auf etwas Übergeordnetes berufen, anerkennen wir, dass wir letztlich nicht alles selbst in den Händen haben.» Die Mehrheit des Rates sah es Gott sei Dank auch so und der Vorstoss wurde mehrheitlich abgelehnt.
Segen der Besinnungen
Ich hoffe und glaube, dass die erwähnten Morgenbesinnungen das integrierte Christsein in der Politik stets neu befruchten und festigen. Und ich hoffe und glaube, wie sicherlich auch all meine Vorgänger, dass diese Besinnungen auch nach meiner Zeit weitergehen. Und dass Gottes Segen und seine Liebe auch durch diese Begegnungen weiterfliessen wird. Denn: «Alles Ding hat seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.»
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