Auf der einen Seite der Barrikaden dieses Kulturkampfes stehen Menschen, die das Recht auf Abtreibung am liebsten zu einem Menschenrecht erklären möchten und das Abtreiben von ungeborenen Kindern zu einem feministischen Postulat stilisieren. Auf der anderen Seite stehen radikale Abtreibungsgegner, oft evangelikale Christen. Sie strecken die Plakate mit ihren Parolen zum Himmel, auf denen sie abtreibungswillige Frauen als Mörderinnen verunglimpfen. Weder die eine noch die andere Haltung führt uns weiter. Es gilt deshalb, genauer hinzusehen, Missverständnisse zu klären und Brücken über die Barrikaden zu schlagen.
Feminismus für Mann und Frau
Gehen wir vorerst 2000 Jahre zurück in die patriarchale Gesellschaft der Antike. Hier treffen wir auf Jesus, für Christen der Sohn von Gott, der einen für die damalige Kultur anstössig wertschätzenden Umgang mit Frauen pflegte. Er kann mit gutem Recht als erster Feminist der Antike bezeichnet werden. Die ersten christlichen Gemeinden bemühten sich in der Folge, seinem Vorbild und der damit verbundenen Theologie der Gleichheit von Mann und Frau in einer patriarchalen Umgebung einigermassen gerecht zu werden. Die katholische Kirche bemüht sich noch heute darum.
Wer den Start des Feminismus später – mit der Erklärung der Menschenrechte – ansetzen möchte, wird sich eingestehen müssen, dass auch dieses Grundsatzdokument vor allem auf christlichen Grundlagen beruht.
Mann und Frau sind von Gott gemäss der Bibel in seinem Ebenbild geschaffen – unterschiedlich, aber gleichwertig und einander ergänzend. Wir tun deshalb gut daran, auch bei der Frage der Abtreibung neben der göttlichen Seite auch die weibliche und männliche Sicht der Dinge einzubeziehen.
Halten wir also fest: Die Gleichwertigkeit der Frau ist ein legitimes (auch) feministisches Postulat. Sie ist aber nicht ohne den Mann zu haben. Sie wächst erst in einer entsprechend gestalteten Beziehung zwischen Mann und Frau. Diese Gemeinschaft gilt auch für eine Schwangerschaft – und damit auch für die Fragen rund um die Abtreibung auftauchen.
Mein Eindruck ist, dass die Sympathie für eine Abtreibung vor allem eine männliche Erfindung ist. Mit diesem scheinbar kleinen Eingriff bei der Frau kann Mann unpassende Kinder rechtzeitig vermeiden und weiteren unangenehmen Verantwortungen aus dem Weg gehen.
Ich kenne keine Statistik dazu, vermute aber, dass hinter vielen Abtreibungen vor allem (auch) der Druck des Partners steht. Verantwortung beginnt aber viel früher – und das gilt natürlich für beide – Mann und Frau. Wenn beide miteinander schlafen, nehmen sie die Zeugung eines Kindes zumindest potenziell in Kauf, auch wenn Verhütungsmittel eingesetzt werden. Verantwortungsvoll wäre es deshalb, diesen Beweis der gegenseitigen Liebe mit einem Umfeld zu verbinden, das Kinder früher oder später möglich macht.
Im Grundsatz gibt es keine ungewollten, höchstens «unpassende» Schwangerschaften. Dort, wo die intime Verbindung in irgendeiner Weise erzwungen worden ist, liegt das Problem nicht beim werdenden Kind, sondern bei diesen Zwängen. Diese gilt es zu bekämpfen: etwa mit einer guten Beziehungs- bzw. Eheberatung oder auch mit der Verfolgung der Täter. Der Extremfall einer Vergewaltigung ist ein krimineller Akt, der mit einer scharfen Bestrafung beantwortet werden muss. Das wäre wahrer Feminismus.
Zwischenfrage: Wem gehört der Bauch?
«Mein Bauch gehört mir», heisst eine beliebte Forderung an Frauen-Demos. Dem ist natürlich beizupflichten. Männer mögen sich dieses Postulat angesichts ihres Bierbauches zu eigen machen. Obwohl: Bei näherer Betrachtung müsste zumindest bedacht werden, dass die aus diesem Anspruch entstehenden allfälligen Gesundheitskosten je nachdem von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Somit müsste Mann hier neben der Selbstbestimmung auch die Eigenverantwortung einbeziehen.
Wenn aber werdende Mütter das Recht auf den eigenen Bauch reklamieren, geht das nur, weil sie den feinen Impuls unterdrücken, der vom Wesen ausgeht, das in ihnen am Wachsen ist. Da gibt es eine werdende Person, die Gastrecht hat in diesem Bauch. «Mein Bauch gehört uns», wäre deshalb die passende feministische Parole. Und die gilt für Mann und Frau – und das werdende Kind (siehe unser Bild).
Echte Lösungen suchen
Es ist aber nicht zu bestreiten: Werdende Mütter – und die dazugehörigen Väter – können bei einer ungeplanten Schwangerschaft vor echte Probleme gestellt werden. Da tauchen Fragen auf wie: Sind wir nicht zu jung? Haben wir genügend Geld? Wo sollen wir zu Dritt wohnen? Wer hütet unser Kind bei einer doppelten Berufstätigkeit? Ist meine Karriere gefährdet?
Diese Herausforderungen auf Kosten des Kindes zu lösen, ist bequem, greift aber zu kurz. Was wir brauchen, ist eine sorgsame Gesellschaft, die diese Fragen befriedigend beantworten kann. Wenn die familiären Möglichkeiten fehlen, die Situation aufzufangen, müsste ein entsprechendes Sozialsystem greifen; es braucht teilzeitliche Arbeitsstellen, eine ausgebaute Kinderbetreuung, aber auch die Möglichkeit, Karrieren zu unterbrechen und später wieder aufzunehmen.
Es kann nicht sein, dass unsere Gesellschaft aus Männern und Frauen Arbeitssklaven macht, die wegen ihren Kindern aus dem Rahmen fallen. In diese Richtung gehen unterdessen einige US-Firmen: Sie übernehmen die Abtreibungskosten ihrer Mitarbeiterinnen, die etwa durch verlängerte Anfahrtswege zur Abtreibungsklinik entstehen, wie auch die Kosten für die Abtreibung selber1. Amazon, Apple, Microsoft und Paypal möchten ihre fleissigen Arbeitsbienen eben lieber im Büro sehen statt im Wochenbett.
Für die Fälle, in denen das Aufziehen von Kindern trotz allem eine Überforderung wäre, müsste ein sorgfältig durchdachtes Adoptivsystem zur Verfügung stehen. Die Nachfrage nach Adoptivkindern ist bekanntlich riesig. Tatsächlich haben US-Christinnen und Christen auf die erwartete Zunahme von Adoptionen reagiert. Ein Versicherungsunternehmen aus Texas hat Mitarbeitenden angeboten, sie im Fall einer Adoption bei den Adoptions- und Arztkosten zu unterstützen2. Solche Initiativen würden auch feministischen Kreisen gut anstehen.
Ab wann gibt es ein Recht auf Leben?
Menschliches Leben darf nicht mutwillig zerstört werden, da sind wir uns wohl alle einig. Es gilt aber auch das Recht auf Selbstbestimmung. Auch wenn das aus der Sicht einer christlichen Ethik zumindest fragwürdig ist: Das kann heissen, dass ich meinem Leben im Extremfall ein Ende setze.
Das heisst nun aber nicht, dass ich diese Freiheit auf Menschen übertragen kann, die vielleicht leben wollen oder gerne leben würden, wenn sie es könnten. So wie werdende Kinder. Aber: Sind Föten überhaupt schon Personen? Die Frage wird im Zusammenhang mit dem letztmöglichen Zeitpunkt einer Abtreibung zu Recht heiss diskutiert.
Sicher ist: Ein ungeborenes Kind ist nicht einfach eine Anhäufung von Zellen und mutiert bei seiner Entbindung plötzlich zu einer Person mit den entsprechenden Rechten – etwa dem Recht auf Leben. Wenn wir die Lebensfähigkeit als Kriterium nehmen, können wir den kritischen Punkt bei den lebensfähigen Frühgeburten ansetzen. Noch vor wenigen Jahren galt die 28. Schwangerschaftswoche als der frühestmögliche Zeitpunkt für die Lebensfähigkeit von Babys nach einer Frühgeburt. Durch die Möglichkeiten der modernen Medizin konnte diese kritische Grenze weit nach vorne geschoben werden, je nach Quelle bis in die Zeit der 23. bis 25. Schwangerschaftswoche3.
Wer zu diesem Zeitpunkt abtreibt, zerstört also Leben. Ist es aber ethisch richtig, Föten faktisch als Zellklumpen einzustufen, als Gewebe, das man ohne weiteres wegmachen kann? Oder sind sie doch eher schon potenzielle Menschen? Eine heikle Frage. Man könnte auf dieser Linie weitergehen und fragen: Dürfen wir Kinder mit einer voraussichtlichen Behinderung abtreiben, weil wir ihnen und uns damit ein schwieriges Leben ersparen? Die katholische Kirche ist in ihrer Ethik in diesen Fragen konsequent: Für sie gilt das Recht auf Leben ab dem Zeitpunkt der Befruchtung. Abtreibungspillen, die später wirken, werden in dieser Sicht zu Recht abgelehnt.
Sobald aber Abtreibungen zu einer Option werden, muss in der Rechtssprechung definiert werden, bis wann dieser Eingriff möglich ist. Vermutlich gibt es dazu ethisch gesehen keinen «richtigen» Zeitpunkt.
Unsere Gesellschaft lebensfreundlicher gestalten
Besser wäre es deshalb, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass Abtreibungen gar nicht mehr nötig sind. Dazu brauchen wir, wie gezeigt wurde, eine Gesellschaft, die sorgsam mit werdenden Müttern (und den zugehörigen Vätern) umgeht. Teil davon wäre eine am Leben des werdenden Kindes orientierte Beratung von schwangeren, potenziell abtreibungsgefährdeten Müttern. Ein gutes Beispiel dafür ist die Beratungsstelle «Hilfe für Mutter und Kind»4. Sie bietet Beratung und Direkthilfe an für Frauen, Paare und Familien, die durch Schwangerschaft oder Geburt eines Kindes in Not geraten.
Auf dieser Linie liegen auch Initiativen wie «Einmal darüber schlafen» und «Lebensfähige Babys retten» des Vereins Mamma. Mit der ersten Initiative sollen laut «idea Schweiz» Ärztinnen und Ärzte den schwangeren Frauen vor einer Abtreibung mindestens einen Tag Bedenkfrist geben müssen. Und dank der zweiten Initiative dürften keine Abtreibungen von Kindern mehr vorgenommen werden, die ausserhalb des Mutterleibes – allenfalls mit Unterstützung der Intensivmedizin – atmen können5.
Es gibt höchstens ein Notrecht auf Abtreibung
Abtreibungen sind im Grundsatz ethisch fragwürdig, schlicht weil hier das (potenzielle) Leben eines anderen Menschen zerstört wird. Wir müssen uns aber auch eingestehen, dass es Grenzfälle geben kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem ethischen Dilemma: Es gibt manchmal zwei ethisch fragwürdige Situationen, zwischen denen sich jemand entscheiden muss. Hier gilt es, nicht nach der richtigen, sondern nach der weniger falschen Lösung zu suchen. Nehmen wir das Beispiel der Vergewaltigung von Frauen während eines Krieges. Das so entstandene Kind ist eng mit einem traumatischen Erlebnis seiner Mutter verbunden; es wird seinen Vater vermutlich nie kennenlernen. Eine Abtreibung ist auch in diesem Fall nicht zwingend. Aber vielleicht der weniger falsche Ausweg.
Das «Recht» auf Abtreibung ist genau betrachtet eine absurde Forderung, schliesslich wird hier schutzloses werdendes Leben aus dem Weg geräumt. So gesehen wirken Freudentänze bei der Lockerung von Abtreibungsgesetzen grotesk. Hier wären wenn schon Trauermärsche angesagt – oder wenigstens eine Demo für das Leben6. Abtreibungen lösen die eigentlichen Probleme nicht, sondern schaffen sogar neue – denken wir nur an die Gefahr von psychischen Störungen nach einer Abtreibung7. Vor allem aber gilt: Sie nehmen den nötigen Druck weg, die gesellschaftlichen Umstände so zu gestalten, dass Abtreibungen überflüssig werden.
Trotzdem brauchen wir in unserer Rechtsprechung so etwas wie ein Notrecht auf Abtreibung. Dieses Notrecht muss es möglich machen, ein ethisches Dilemma menschlich und juristisch möglichst angemessen zu lösen, ohne Tür und Tor für gedankenlose Abtreibungen zu öffnen.
Im Kulturkampf Brücken über die Barrikaden bauen
Politisch sollten sich Christinnen und Christen – zusammen mit (echt) feministisch gesinnten Frauen und Männern – für eine Gesellschaft einsetzen, in der Abtreibungen nur noch in Ausnahmesituationen vorkommen, wenn alle anderen Möglichkeiten zu keinem sinnvollen Ergebnis geführt haben. Bis zur zwölften Schwangerschaftswoche (gerechnet ab dem 1. Tag der letzten Periode) ist der Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz zur Zeit straffrei. Die Schwangere muss dafür eine Notlage geltend machen, ein schriftliches Gesuch stellen und den Schwangerschaftsabbruch von einer zugelassenen Frauenärztin bzw. einem Frauenarzt durchführen lassen8. Im Jahr 2021 wurden dem Bundesamt für Statistik in der Schweiz laut den am 6. Juli veröffentlichten Zahlen 11049 Abtreibungen gemeldet, 180 mehr als im Jahr 2020, 539 davon nach der zwölften Schwangerschaftswoche. Auf 1000 Lebendgeburten fielen 121,2 Abtreibungen9. Wie die tatsächlichen Zahlen aussehen, wissen wir nicht so genau. So oder so gilt: Fördern wir gemeinsam Lebensumstände, die es möglich machen, diese Zahlen zu senken!
Dasselbe müsste auch für den derzeitigen amerikanischen Kulturkampf gelten. Rechts- und linksevangelikale Christen haben in der heute blockierten Situation die Chance, Brücken über die Barrikaden schlagen. Aufgrund ihrer gemeinsamen Ethik können sie überparteilich eine Gesellschaft fördern, die das Recht auf Leben nicht auf den Bauch der Mutter beschränkt.
Eine konservative, also das Leben bewahrende Haltung zur Abtreibung ist nur dann glaubwürdig, wenn sie kombiniert wird mit dem Fördern einer sozial gerechten Gesellschaft.
Die nötigen Anregungen dazu finden sich bei Jesus. Bekanntlich hat er nicht nur die Frauen aufgewertet, sondern seinen Jüngerinnen und Jüngern auch die Vision einer lebensfreundlichen Gesellschaft mit auf den Weg gegeben10.
1 Quelle: Livenet-Newsletter vom 17.7.22
2 dito
3 https://www.windeln.ch/magazin/schwangerschaft/geburt/fruehgeburt-in-der-ssw-28-33.html (3.8.22)
6 https://www.marschfuerslaebe.ch
7 https://www.profemina.org/de-ch/abtreibung/psychische-seelische-folgen
9 Quelle: idea Schweiz 28/2022
10 siehe etwa die Antrittsrede von Jesus in Lukas 4,16 ff
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