Mobilität: Auf der Suche nach dem verlorenen Mass 

Kompass, Schiesspulver und Eisenbahn haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Ein zweiter Blick zeigt: All diese Erfindungen und Entdeckungen haben unsere europäische Geschichte entscheidend geprägt. Sie bildeten jeweils den Anfang einer erfolgreichen neuen Etappe. Zumindest für einen Teil der Menschheit. Unterwegs haben wir aber etwas verloren: den Massstab für eine gesunde Mobilität.

(Lesezeit: 9 Minuten)

Die Mobilität ist keineswegs eine Erfindung der Moderne. So ermöglichte das römische Reich innerhalb seiner Grenzen mit seinen befestigten Strassen eine noch nie gesehene Mobilität. Römische Streitkräfte konnte von Rom aus der Küste entlang Jerusalem innerhalb von etwa 22 Tagen erreichen1. Sie legten dabei über 3400 km zurück. Oder man denke an die spätere so genannte Völkerwanderung der germanischen Völker zwischen dem 2. und 6. Jahrhundert. Dabei verschoben sich über mehrere Jahrhunderte ganze Völkerbünde: Sie wurden umgesiedelt bzw. waren gezwungen, das Weite zu suchen.

Es fällt auf, dass biblische Beispiele der Mobilität meist positiv besetzt sind. Abraham  wurde aufgefordert, sich aufzumachen «in das Land, das ich dir zeigen werde». Das Volk Israel brach in das verheissene Land auf. Der neutestamentliche Missionsbefehl ist verbunden mit der Aufforderung, hinzugehen. Und schliesslich wird der Himmel oft als ein ferner Ort im Jenseits verstanden, in den man geht2.  

Kurz: Mobil zu sein, ist keine Erfindung unserer Zeit. Allerdings sind die Möglichkeiten dazu heute fast unbegrenzt geworden. Deshalb stellt sich die Frage dringender als je zuvor, wie wir mit diesen unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten umgehen. Die Antwort hängt vom Massstab ab, den wir ansetzen. Deshalb möchte ich nicht die Mobilität an sich hinterfragen, sondern die Richtschnur, mit der wir sie einschätzen. Dabei hilft uns ein Blick in die Geschichte.

(Bild: Markus Spiske auf Pixabay)

Kompass, Schiesspulver und ein neues Weltbild

Der Kompass, den die Seeleute nutzten, läutete ein neues, technisches Zeitalter ein: Er ist das Symbol des Übergangs vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Die Schiffe auf den Meeren konnten das avisierte Ziel in der Ferne nun trotz Stürmen erreichen. In diese Zeit fällt die grosse Entdeckung einer von uns noch nicht erschlossenen Welt: Kolumbus wollte nach Indien und traf auf Amerika, Vasco da Gama fand ein paar Jahre später den Seeweg nach Indien. Mit diesen neuen Mobilitätsmöglichkeiten konnten die einen grosse Beute machen, während die Einheimischen ausgebeutet wurden, ohne einen Anspruch auf ihren Kontinent stellen zu können.  

Das Schiesspulver, eine weitere grosse Entdeckung jener Zeit, ermöglichte wirkungsvollere Waffen. Es gehört neben dem Buchdruck und dem Fernrohr zu den grossen Entdeckungen im 15. Jahrhundert3.  Das Schiesspulver veränderte die Stellung des mittelalterlichen Rittertums und läutete eine soziale Umgestaltung ein, während der Buchdruck und vor allem das Fernrohr eine Zäsur für das damalige Weltbild bedeutete.

Aber wohl noch stärker als diese technischen Entdeckungen im 15. Jahrhundert wirkte das neue philosophische Paradigma seit dem 14. Jahrhundert, das die Naturwissenschaften  später überhaupt erst ermöglichte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit ebnete diese neue Denkweise den Weg für die grossen Entdeckungen, die später mit den Namen Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Johannes Kepler (1571-1630), Galileo Galilei (1594-1641), aber auch mit Isaac Newton (1643-1727) verbunden wurden: Sie alle haben auf ihre Weise den Durchbruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes besiegelt. In der Neuzeit standen nun der Mensch, seine technischen Möglichkeiten und die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Vordergrund. Ein Weltbild, das uns noch heute prägt4.  

 

Es läuft wie geschmiert!

Zur nun aufkommenden Industrialisierung gehörte als wichtigster Treiber die Dampfmaschine. Das grosse Geld konnte nun in der Industrie verdient werden: zuerst in England Ende des 18. Jahrhunderts – und anfangs 19. Jahrhundert in weiteren europäischen Ländern. Dies veränderte das ganze bisherige gesellschaftliche Leben. Fabriken wurden gebaut und die bisherige Handarbeit durch Maschinen ersetzt; Arbeitslosigkeit und Armut entwickelten sich im Gleichschritt mit dem Wachstum der Städte. Im Bereich Mobilität eröffnete vor allem die Eisenbahn neue Möglichkeiten. Sie war enorm wichtig für den Transport von Kohle und Eisen, brauchte aber selbst Unmengen an Eisen bei ihrer Herstellung. Dank der neuen Mobilitätsmöglichkeiten konnten die Preise der Waren gesenkt werden, was wiederum die Produktion förderte.

Die Eisenbahn war allerdings im Blick auf die Industrie und ihre Produktionsmöglichkeiten entwickelt worden. Die Vorstellung von Freizeit, Urlaub und vom Bereisen der Welt war zu jener Zeit noch undenkbar. Es waren erst Einzelne wie etwa Alexander von Humboldt, die sich aufmachten, um die Welt mit den neuen Möglichkeiten zu entdecken. Der gemeine Mann blieb seiner Scholle treu. Oder er war nun neu an die Fabrik des Kapitalisten an der Spitze gebunden, falls er überhaupt noch Arbeit fand und so vor Ort überleben konnte.

 

Im Zeichen des neuen wissenschaftlichen Paradigmas entwickelte sich auch die Mobilität: die alte Welt sollte mit dem Fortschritt überwunden werden. Parallel und trotzdem miteinander verwoben wurde die Freiheit des Einzelnen immer zentraler, vorerst zumindest in der neureichen Elite. Heute wissen wir es im Rückblick: Mit der Industrialisierung hat auch die globale Erwärmung stark zugenommen. Gleichzeitig haben die neuen technischen Möglichkeiten und die Autonomie des Menschen auch in der breiten Bevölkerung einen quasi religiösen Wert erlangt. 

 

Das richtige Mass finden

Ist das nun verwerflich oder nicht? Die Antwort darauf entscheidet sich am Massstab, mit dem wir messen. Welche Mobilitätsmöglichkeit ist für uns normal? Der Gegenpol des normalen Zustands, der möglicherweise weit weg von gut ist, wäre der anormale Zustand. Gehört unsere Mobilität also mehr zur Normalität oder zur Anormalität?  

Was wir sagen können: Nach wie vor gilt der Fortschritt als Trumpf. Allerdings sind es heute nicht mehr neue Kontinente, die erschlossen werden sollen, sondern neue Planeten5. Damit der gewohnte Massstab für Mobilität weiterhin gewissensfrei beibehalten werden kann, wird das Benzinauto allmählich durch das Elektroauto abgelöst. Gleichzeitig steigen die Verkaufszahlen von schweren Autos, als wäre die Schöpfung eine ersetzbare Maschine6. Kurz: Die Mobilität ist geblieben, sie ist sogar luxuriöser, ausdifferenzierter und weiter gesteigert worden. In Anbetracht der gewaltigen Zerstörung der Natur seit der Industrialisierung stellt sich heute die Frage, ob es Auswege aus diesem Muster gibt. «Dank» der Industrie wurden ganze Landstriche und Gewässer unbrauchbar, viele Menschen verloren ihre Arbeitsstelle7.

Bieten die Kirchen in dieser Situation alternative Antworten an oder geben sie der Problematik einfach einen theologischen Anstrich? Übernehmen sie sogar die Philosophie dahinter und basteln aus dem menschlichen Fortschritt das Paradigma des kirchlichen Wachstums?

Kirchen tun gut daran, ihre reiche biblische und kirchliche Tradition heranzuziehen und sich selber, aber auch die Gesellschaft zu hinterfragen. Damit soll nicht die vergangene Welt idealisiert, sondern der Frage nachgegangen werden, wie wir – aus christlicher Perspektive – uns selber, dem Nächsten und am Ende Gott näherkommen können.

Die Kirchen müssen dabei nicht auf die grossen Hebel der Politik warten. Sie sollen die Schritte gehen, die sie bereits gehen können, auch wenn sie noch so unbedeutend wirken. Exemplarisch dafür zeigt das Eco Church Network8 viele schlichte Wege, welche eine Kirche gemeinsam mit ihren Mitgliedern gehen kann. So zeigt das Merkblatt D4 – Mobilität konkrete Schritte, um neue Wege im Bereich der Mobilität zu suchen – und so das verloren gegangene Mass der Mobilität vielleicht wieder zu finden.

 

1 vgl. Orbis, The Standford Geospatial Network Model of the Roman World, Mai 2022 (online)

2 1. Mose 12,1; 2. Mose 1-15, Matthäus 28,19

3 Störig, Die kleine Weltgeschichte der Philosophie (2000), S. 318-322

4 Ruffing, Einführung in die Geschichte der Philosophie (2007), S. 119 

5 vgl. t3n, Mars-Mission: Elon Musk warnt vor einem «nuklearen Armageddon», Mai 2022 (online)

6 vgl. AGVS, SUV dominieren Angebot, Mai 2022 (online)

7 Ruth Valerio nennt verschiedene Aspekte der Zerstörung der Schöpfung, die oft den Menschen tangieren.  Exemplarisch sind die teilweise ausgefischten Meere, welche den lokalen Fischern den Erwerb verunmöglichen.

8 https://ecochurch.ch

 

Literaturverzeichnis

AGVS, SUV dominieren Angebot: https://t3n.de/news/mars-mission-elon-musk-warnt-1429807, abgerufen am 20. Mai 2022

Orbis, The Standford Geospatial Network Model of the Roman World, online unter https://orbis.stanford.edu, abgerufen am 22. Mai 2022

Ruffing, Reiner: Einführung in die Geschichte der Philosophie, Paderborn, 2007

Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart, 2000

t3n, Mars-Mission: Elon Musk warnt vor einem «nuklearen Armageddon», online unter https://t3n.de/news/mars-mission-elon-musk-warnt-1429807, abgerufen am 20. Mai 2022

Valerio, Ruth: Saying Yes to Life, London, 2020

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