Wie ungleich darf unsere Gesellschaft sein?

Die Ungleichheit in der Vermögens- und Einkommensverteilung hat in den letzten Jahren zugenommen, weltweit, aber auch in der Schweiz. Diese Ungleichheit führt zu sozialen Spannungen und Ungerechtigkeiten. Innerhalb eines Landes treibt sie die Benachteiligten im Extremfall auf die Strasse, weltweit ist sie eine der Ursachen für die Migration. Jetzt fordern sogar einzelne Millionäre, dass die Ungleichheit bekämpft werden solle. Aber: Ist Gleichheit überhaupt ein biblisch-christlicher Wert?

(Lesezeit: 9 Minuten)

Eine Person, die in der Schweiz rund 2200 Franken pro Monat verdient, gilt als arm, ebenso eine vierköpfige Familie mit weniger als 3900 Franken. Die stetig steigende Armutsquote liegt unterdessen bei 8,7 Prozent1. Die eigentliche Armut ist aber nur der Extremfall des Problems. Ungleichheit und damit Ungerechtigkeit ist über die ganze Gesellschaft hinweg verbreitet.

Bild: Derek Robinson (Pixabay)

Die Schere der Ungleichheit öffnet sich

Im internationalen Vergleich stehe die Schweiz in Sachen Ungleichheit im Mittelfeld, sagt die Berner Ökonomin Isabel Martinez2, die an der ETH Zürich zum Thema Ungleichheit forscht. Sie ist daran, mit andern zusammen eine Weltungleichheitsdatenbank aufzubauen.

Die Schere habe sich auch in der Schweiz seit den 90er-Jahren weiter geöffnet. «Das oberste 0,01 % der Bevölkerung hat in den 90er-Jahren zwischen 4,5 und 6 Prozent aller Vermögen gehalten, jetzt sind es zwischen 8 und 12 Prozent. Das Kuchenstück der ganz Reichen hat sich also in den letzten Jahren verdoppelt.» Starke Treiber für die zunehmende Ungleichheit seien die Globalisierung und Digitalisierung. Grosse Firmen wie Apple hätten überproportional von den Märkten profitieren können. In der Schweiz haben laut Martinez vor allem die Banken, Rohstoffhändler und die Pharmaindustrie profitiert. Zudem habe die anreizbasierte Entlöhnung aus den USA auch die Schweizer Topkader erreicht.

Die Ungleichheit wird laut Martinez spätestens dann zum Problem, «wenn die Leute das Gefühl haben, dass sie vergessen gehen und immer die Verlierer sind». In der Ökonomie wird aber Ungleichheit oft als Anreiz für besondere Anstrengungen der weniger Erfolgreichen gesehen. Allerdings braucht es dafür gute Aufstiegsmöglichkeiten. Und die sind auch in der Schweiz trotz Bildungsoffensiven nicht garantiert. «Die reichsten zehn Prozent bewahren ihre Spitzenposition mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit, als dass jemand aus der Mitte dahin aufsteigt», sagt die Ökonomin. Man hat weiter vermutet, dass Umverteilung das Wachstum abwürgen könnte. Deshalb habe man die Steuern reduziert. Allerdings zeigen die Resultate, dass dadurch die Ungleichheit sogar gefördert wurde.

 

Die Gleichheit fördern – aber wie?

Wie also kann in dieser zunehmend brisanten gesellschaftlichen Lage die Gleichheit gefördert werden? In den USA ist der Gedanke häufig verbreitet, dies sei nicht die Aufgabe des Staates, sondern der Reichen selbst. Sicher, die Reichen sollen ihr Geld sinnvoll einsetzen. Aber wenn dies der einzige Weg ist, Ungleichheit zu beseitigen, landen wir in einer Sackgasse. Seit der Aufhebung der Obergrenze für Wahlkampfspenden sind laut dem US-Millionär Morris Pearl3 enorme Summen ins Parteien-System geflossen. Laut dem Center for Responsive Politics war eine Elite von 0,47 Prozent während den Zwischenwahlen 2018 für 71 % aller politischen Spenden verantwortlich. In der Schweiz ist diese Art der Einflussnahme durch Reiche auf die Parteien und die Medien bekanntlich immer noch geheim. Dass in autoritären Staaten die reichen Oligarchen eine dominierende Rolle spielen, ist allerdings kein Geheimnis. Für Demokratien kann dies aber nicht der richtige Weg sein.

Damit kommen demokratisch abgestützte Steuern ins Spiel. Für Martinez ist das beste Mittel für die Umverteilung eine Erbschaftssteuer. So könne mit geringen Verzerrungen die Vermögensungleichheit reduziert werden. Und Erbschaften seien definitionsgemäss nicht das Ergebnis eigener Leistung. Der US-Millionär Pearl will sein Geld dem Staat geben. Er fordert zusammen mit seinen «Patriotic Millionairs» einen Spitzensteuersatz von 70% auf Einkommen über 10 Mio Dollar und eine Steuer von 2 Prozent auf Vermögen über 50 Dollar. Und der Philosophieprofessor Christian Neuhäuser4 setzt sich sogar für eine Steuer von 100% für «Superreiche» ein. Er versteht darunter Leute mit 30 Mio Euro Vermögen und 1 Mio Euro Einkommen. Die Millionenerbin mit dem Decknamen Stefanie Bremer5 zieht das bedingungslose Grundeinkommen vor, damit alle gleiche oder «zumindest ähnliche Möglichkeiten» bekommen. Bremer hat die «Bewegungsstiftung» gegründet. «Dort sind wir mittlerweile etwa 200 Vermögende, die ihr Geld geben für progressive Bewegungen, für Projekte, die sich für diese Gesellschaft einsetzen.»

 

Biblische Gleichheit

So weit, so gut. Aber ist «Gleichheit» überhaupt ein biblisch-christlicher Wert? Beim Zusammenstellen der wichtigsten Werte für die werteorientierte Dorf-, Regional- und Stadtentwicklung (WDRS) tat ich mich mit diesem Wert lange schwer. Zu sehr erinnerte er mich an die Werte einer säkularen Aufklärung oder – noch schlimmer – an die Gleichheitsvorstellung der Marxisten, die sich in der Realität tendenziell dann als Armut für alle entpuppte. 

Nun: Die Gleichheit ist heute ein wichtiger Teil der Grundwerte im WDRS-Konzept, eng verbunden mit der Gerechtigkeit. Als weitere Werte kommen Wahrheit und Liebe, Leben und Freiheit und – als zentraler Wert – die Gemeinschaft hinzu.

Alle diese sieben Werte lassen sich direkt aus dem Charakter des dreieinen Gottes ableiten. So auch die Gleichheit. Die drei Erscheinungsformen Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist sind gleichwertig, obwohl sie sich unterscheiden. Jesus Christus macht es in seiner Beziehung zu uns ebenso. Er sieht uns, trotz aller Unterschiede, als gleichwertig an: «Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus.» Dasselbe lässt sich über die gleichwertige Einschätzung von Mann und Frau in Gottes Augen sagen, ohne dass die Unterschiede verleugnet werden.

Wie dieser Gleichheitsgedanke auf eine real existierende (landwirtschaftlich geprägte) Volkswirtschaft übertragen werden kann, zeigt sich in der göttlichen Anweisung des Sabbatjahres. Jeweils nach sieben mal sieben Jahren sollte ein Erlassjahr ausgerufen werden. Im fünfzigsten Jahr sollten alle Sklaven freigelassen werden und zu ihrer Familie zurückkehren können. Dazu gehörte auch eine Landreform mit dem Ziel, dass jeder Familienclan genügend Land hatte, um alle seine Mitglieder zu versorgen. Das ist eine weise Kombination aus Unternehmergeist, der Ungleichheiten schaffen kann und dem göttlichen Gerechtigkeitssinn, der immer wieder eine menschenfreundliche Gleichheit schafft.

Jesus überträgt diese Haltung der Grosszügigkeit, Wiederherstellung und Gerechtigkeit direkt auf sich und seine Botschaft und verallgemeinert sie in alle Lebensbereiche. Die christliche Gemeinde hat – inspiriert vom Vorbild ihres Meisters – im Verlaufe der Kirchengeschichte viel beigetragen zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Wir sollten nicht aufhören, diesen Ausdruck des Evangeliums in einer zunehmend ungleichen Gesellschaft einzufordern und mit dem eigenen Beispiel zu demonstrieren.

 

Was heisst das für uns?

Die meisten von uns gehören – zumindest unter Schweizer Verhältnissen gedacht – weder zu den Reichen noch zu den Superreichen. Trotzdem können viele von uns gut bis sehr gut mit dem eigenen Einkommen leben, nicht zuletzt auch dank einer klugen sozialen Absicherung. Das verstärkte Ernstnehmen des Gleichheitsgedankens könnte uns dazu führen, dass wir aufhören, nur 10% unseres Einkommens, des Betriebsgewinnes aus dem Unternehmen oder gar unseres Vermögens für Gott und seine Ziele einzusetzen. Wenn wir gemäss dem Anliegen des integrierten Christseins merken, dass 100% unseres Geldes für Gott und seine Ziele arbeiten sollten, ergeben sich daraus ganz neue Möglichkeiten, wie wir unser Geld einsetzen und für die Förderung der Gleichheit fruchtbar machen können. Dies nicht nur in der Schweiz, sondern anhand von ausgewählten und kontrollierbaren Beispielen auch weltweit. Dazu gehört auch das Überprüfen der Effekte unseres Konsums, der Umgang mit unserm (geschenkten) Besitz, unser politisches Handeln und der Einsatz unserer Zeit für andere Menschen. So können wir die Gleichheit fördern. Und auch in diesem Bereich wieder in die Spur unseres Meisters Jesus Christus zurückfinden. Lasst es uns gemeinsam tun! 

 

1 wenn das Vermögen mit berücksichtigt wird, beträgt die Armutsquote 3 %

2 Der Bund, 14.8.21

3 Der Bund, 5.4.19

4 Der Bund, 12.12.20

5 https://www.mein-grundeinkommen.de/magazin/millionenerbin-pro-grundeinkommen (verfasst am 28.4.21) und https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/hoehere-steuern-fuer-reiche-ich-sehe-mich-in-der-pflicht?partId=12129365

6 Ich werde dies im derzeit entstehenden Buch «Wenn die Kirche das Dorf entdeckt. Die werteorientierte Dorf-, Regional- und Stadtentwicklung zum Ausprobieren» näher ausführen.

7 Kolosser 3,11

8 1. Korinther 11,11

9 3. Mose 25,10

10 Lukas 4,18 ff

 

Hinweis

Konferenz «Versöhnt leben» am 11. und 12. Februar 2022 in Bern u.a. mit einem WDRS-Workshop zur werteorientierten Ortsentwicklung. Siehe: www.versoehnt.ch

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