Rita Famos, die neue Präsidentin der Evangelischen Kirche Schweiz (EKS), artikulierte am 23. März in der Zürcher Kirchensynode ihr reformiertes Selbstbewusstsein: «Dank der stetigen und offenen Auseinandersetzung mit den gesamtgesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen konnte die reformierte Kirche beispielsweise ihr Schriftverständnis klären und wurde so fähig, mit den Fragen der Neuzeit in einen konstruktiven Diskurs zu gehen.» Nicht zufällig, so Rita Famos, hätten die Reformierten als erste Kirche Frauen ordiniert. Auch die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare sei bereits eingeführt worden.
Genau hinhören oder einfach übersetzen?
Ihr sei bewusst, sagte die seit Januar amtierende EKS-Präsidentin weiter, «dass diese und viele weitere Entscheide nicht ohne Diskurs und Ringen gefällt wurden und gefällt werden. Aber genau darin sehe ich die Kraft und die Zukunftsfähigkeit unserer reformierten Kirche: In der Disputfähigkeit und in der Vielfalt zeigt sie ihren Willen und ihre Fähigkeit, auf Gottes Wort zu hören und das Evangelium immer wieder in die heutige Zeit zu übersetzen.»
Das Hören auf Gottes Wort ist für die Reformation die Grundlage jeder Theologie. Diesem genauen Hinhören macht seit dem 18. Jahrhundert das «Übersetzen» Konkurrenz. Und dies zunehmend unverschämt, manchmal gar dem Bibeltext gegenüber übergriffig. Das «Übersetzen» schloss von Anfang an die Freiheit ein, biblische Aussagen wegzulassen, die nicht zum Zeitgeist passten. Manche Theologen strichen damals all das aus dem Evangelium heraus, was die Vernunft der Aufklärer nicht akzeptieren wollte: Wunder – wie die Auferstehung –, Jesus als Sohn Gottes, die Jungfrauengeburt und vieles mehr.
Hans Heinrich Corrodi (1752-1793), der diese Art von Theologie nach Zürich brachte, empfahl, die Leute sollten nicht die ganze Bibel lesen. Es genüge, wenn man ihnen einen wissenschaftlich gereinigten Auszug geben würde! Dem Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884-1976) war es unmöglich, als moderner Mensch an die in der Bibel berichteten Wunder zu glauben. Mit dem – in der Physik schon lange überholten – Determinismus des 19. Jahrhunderts prägte er nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Theologen-Generationen – mit verheerenden Folgen für die Verkündigung des Evangeliums im deutschsprachigen Raum, die bis heute spürbar sind.
Alles hängt am Zusammenhang
Mal abgesehen vom Weglassen unpassender Aussagen: Was genau geschieht beim Übersetzen? Ein Begriff, eine Metapher, ein Motiv oder eine Begebenheit werden aus dem biblischen Zusammenhang herausgelöst, weil dieser heute angeblich fremd, einer lang vergangenen Kultur zugehörig und somit nicht mehr verständlich ist. Dieses Herauslösen wird allerdings dem Ausgangstext nicht gerecht. Denn Bedeutung ergibt sich, vereinfacht gesagt, immer durch Zusammenhänge.
Die Aussagen über die altisraelitische Gesellschaft etwa sind immer im Kontext des Bundes zu verstehen, den Gott damals vom Sinai herab mit den zwölf Stämmen schloss. Wer diesen Zusammenhang ausradiert oder anderswie vergessen macht, der verzerrt und verdreht Aussagen des Alten Testamentes. Gott schenkt seinem Volk Heil. Diese Tatsache wird aus dem Rahmen herausgebrochen: aus der Erfahrung, dass Gott einen Bund gestiftet hat – und dies mit Vorgaben. Biblische Grundbegriffe wie Gnade und Wahrheit, Treue und Liebe können nur im Zusammenhang dieses Bundes richtig verstanden werden. Anders geht es nicht.
Der Religionsphilosoph Hartmut von Sass sagte in einem Gespräch mit dem Landeskirchen-Forum: «Die Erwartung, dass es säkulare Übersetzungen gibt, leistet im Grund der Ent-Kontextualisierung der religiösen Sprache, Rituale und Bilder Vorschub. Es ist die Erwartung, dass man sie herausnehmen kann und sie – ohne sie zu beschädigen – in einen anderen Kontext setzen kann, damit sie endlich verständlich sind und dann den Rechtsstaat oder was auch immer befördern.»
Für von Sass ist es also genau umgekehrt: Übersetzungen werden unverständlich, wenn man den Kontext wegnimmt. Denn «Dinge haben ihre Einbettung in eine bestimmte Umgebung. Texte haben Kontexte. Wenn man mit religiösen Texten so umgeht, dass sie aus ihrem Kontext, auch dem kirchlichen Kontext und einer konkreten Praxis – der Sakramente, des Gottesdienstes, des religiösen Lebens einer Gemeinschaft – herausgenommen werden, damit sie für ein anderes soziales System, etwa den Rechtsstaat, irgendwie funktionabel gemacht werden, ist das ein fatales Missverständnis.»
Christen wird geraten, ihr Engagement für Randständige nicht mehr damit zu begründen, dass jeder Mensch im Bild Gottes geschaffen ist. Mit dieser Begründung würden sie nicht mehr verstanden, da im öffentlichen Diskurs von der Nicht-Existenz Gottes ausgegangen werde. Doch wenn Christen ihre Überzeugung «übersetzen», indem sie diese in eine rein säkulare Sprache kleiden und nur noch von den Grundrechten des Menschen reden: Was unterscheidet sie dann noch von Humanisten? Wie können sie dann noch ihre Passion als Gläubige einbringen? Und sie der kalten Funktionalisierung der Argumente entziehen?
Liebe – falsch übersetzt
Ein eklatantes Beispiel für eine Fehl-Übersetzung durch Entkontextualisierung gibt das Hauptwort des christlichen Glaubens her: Liebe. Wer diesen Beitrag liest, weiss, wie heute auf Rechte für jene gepocht wird, die «einander lieben». Gemeint ist in aller Regel erotische, begehrende Liebe. In einem Papier haben Theologen 2019 aus einer «Maxime der Liebe Gottes» gefolgert, zwei «liebenden, mündigen Menschen» könne ein kirchlicher Segen nicht verweigert werden.
Wen kümmert es, dass im griechischen Urtext des Neuen Testaments das Wort eros kein einziges Mal vorkommt? Agape ist das Wort des Neuen Testamentes für Liebe – 116 mal. Die biblischen Autoren machen klar: Gott hat uns zuerst geliebt und Christus zu unserem Heil gesandt. Wir lieben ihn, wenn wir seine Gebote halten1. Nun aber wird das Neue Testament, das Liebe durchgehend als agape versteht, für die Forderung, eros zu segnen, funktionalisiert – ja, ich meine: missbraucht.
Zentralbegriffe – anders gefüllt
Es wäre eine lohnende Forschungsarbeit zu zeigen, wie der Begriff «Treue» im Lauf der letzten Jahrzehnte aus dem biblischen Zusammenhang gelöst und inhaltlich anders gefüllt worden ist. Die alte Praxis von «Treu und Glauben» leidet darunter. Das darauf beruhende Gemeinwesen hat das Nachsehen, wenn Zentralbegriffe der abendländischen Zivilisation aus ihrer ursprünglich biblischen Verankerung gerissen werden.
Die «Maxime der Liebe Gottes» scheint dazu zu führen, dass «Gott» gutheissen muss, wozu freie, mündige Menschen sich entschliessen. Denn der christliche Gott ist gnädig und verzeiht. Wird dies – in Missachtung des ganzen Neuen Testamentes – so verabsolutiert, dass er gar nicht mehr anders kann, als Menschen anzunehmen? Wird der Begriff «Gnade» übersetzt werden als «Inklusion» – weil niemand ausgeschlossen werden darf?
1 1. Johannes 4, Johannes 3 und 15
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