Wie Migration gelingen kann

Seit Ende der neunziger Jahre kümmert sich in Olten der Tamil-Trägerkreis der methodistischen Gemeinde um Flüchtlinge aus Sri Lanka. Herz, Dreh- und Angelpunkt dieses sozialen Engagements war Emmanuel R. Sinnadurai. Nach 32 Jahren zieht der Frührentner mit seiner Familie nun weiter … nach Kanada. 

(Lesezeit: 6 Minuten)

«Post it»-Zettel hängen an den Möbeln im Wohnzimmer der Familie Sinnadurai in der Wohnung des Zwei-Familien-Hauses in Olten. Es herrscht Umzugsstimmung. Diese Umtriebigkeit passt zum heute 61-jährigen Emmanuel, der mit vollem Namen Emmanuel Ranjitkumar Sinnadurai heisst. Ich lernte ihn 1992 kennen. Fast täglich brachte er irgendwelche tamilischen Freunde an unsere Türe, deren Nöte ihn zum Handeln motiviert hatten. Die Fragen zum Asylverfahren, zu verschiedensten Verträgen, Arbeitsverhältnissen, Gesundheits- und Sozialversicherungen stapelten sich in unserm Haus zusehend.

 

Plötzlich zuständig für Flüchtlinge

Mir, dem damals jungen Familienvater in der Zweitausbildung zum Juristen, entsprach dieses ehrenamtliche Engagement in der Methodistenkirche in Olten. Der dortigen Gemeindeleitung hatte ich angeboten, mich einen Tag pro Woche in der Freiwilligenarbeit der Gemeinde zu engagieren. Darauf wurde mir das Dossier «Flüchtlinge» aus der «Hauri-Villa», einem Heim für Asylsuchende mit 13 Bewohnenden, in die Hände gedrückt.

 

Dem Bürgerkrieg entflohen

Emmanuel, die wichtigste Person dieses Projektes, stammt aus Sri Lanka. Die Wirren des Bürgerkrieges hatten ihn 1989 in die Schweiz geführt. Kirchlich hatte er seine Wurzeln in der anglikanischen Kirche. Im Asylzentrum Zuchwil (SO) erinnerte er sich an die «Methodistenkirche», zu der sich sein Schwager zählte. So suchte und fand er den Kontakt zur EMK Solothurn.

 

«Mama Ruth»

Nach seiner «Überweisung» aus dem Asylzentrum begann Emmanuels Wirken in Olten. Er erlaubte es sich, der leicht aufmüpfigen Rentnerin Ruth Ehrsam in der methodistischen Gemeinde in Olten den ihr «zustehenden Sitzplatz» streitig zu machen. Das war für sie der Anstoss für eine «Horizonterweiterung». Nach der Berichterstattung im Schweizer Fernsehen über angeblich herumlungernde Asylsuchende im Bahnhof Zürich reiste die rüstige Rentnerin an den Ort des Geschehens und beschwerte sich direkt bei den angesprochenen Männern über deren «faules Gebaren». Sie forderte die Männer auf zur Mithilfe bei Gartenarbeiten in Olten. Und die Asylsuchenden kamen. Sie anerboten sich für weitere Hilfeleistungen. Die über 70-Jährige wurde in der Folge zur «Mama Ruth» der Hauri-Villa und für viele weitere Tamilen.

 

Vernetzung der Kulturen

Emmanuel war innert kurzer Zeit bestens vertraut mit der regionalen Diaspora aus Sri Lanka. Dank seiner Vernetzung mit den vielen Schweizerinnen und Schweizern in der methodistischen Gemeinde lernte er die Gepflogenheiten unseres Landes rasch kennen und gab dieses Wissen an seine Landsleute weiter. Natürlich gehörte dazu auch die Vermittlung von Dienstleistungen jeglicher Art. Er begleitete Landsleute auf Ämter, diente als Dolmetscher und wurde für mich zu einer Vertrauensperson, was mir die Durchführung zahlreicher Beschwerden in Asylverfahren überhaupt erst möglich machte.

Dank Emmanuel kam es auch zu vielen «Familienzusammenführungen». Geglückten Einreisen in die Schweiz ging oft «Emmanuels Partnervermittlung» voraus. Auch einige Schweizer Paare gehen auf seine Vermittlung zurück.

Besonders ist auch die Liebesgeschichte mit seiner Frau. Die Tamilin Ruth Mathivathany konnte 1996 für die Heirat aus Kanada einreisen und später auch im Land bleiben. Mit der Geburt von Samuel (1999) und Tabita (2003) vervollständigte sich die Familie. Ruth fasste beruflich Fuss. Neben ihrer Arbeit als «Familienfrau» war sie als Mitarbeiterin bei der Waldspielgruppe und später als Kindererzieherin bei Akadis in Olten tätig. In all den Jahren war die Familie Sinnadurai in christlichen Gemeinden der tamilischen Gemeinschaft engagiert. Aber auch die Kontakte zu den Schweizer Kirchen hielt sie immer aufrecht.

Familie Sinnadurai heute (Selfie von Tamara Sinnadurai) 

Segensspuren

Die Familie Sinnadurai sieht in ihrer bewegten Migrationsgeschichte rückblickend viele Segensspuren: Ursprünglich Bautechniker in Sri Lanka, arbeitete Emmanuel in der Schweiz in der Gastrobranche: erst als Küchenhilfe, dann als Hilfskoch. Nach zehn Jahren folgten acht weitere Jahre in der Fertigung von Präzisionswerkzeugen. Der Konkurs der Firma liess ihn zehn Monate Arbeitslosigkeit erleben, bis er Mitte 2010 in die ETA SA (Swatch Group) in Grenchen als Operateur eintrat, wo er nun coronabedingt ein Angebot zur Frühpensionierung erhielt.

Das unerwartete Angebot der Frühpensionierung ermöglicht der Familie Sinnadurai nun ein familiäres Zusammenrücken: Geschwister von Ruth und Emmanuel leben in Kanada, für Samuel und Tabita verspricht sich die Familie bessere Zukunftschancen im traditionellen Einwanderungsland. So gilt es Abschied zu nehmen – aus der «Zwischenheimat» Schweiz, dies nach 32, 25, 22 und 18 Jahren.

 

Herberge in Sicht?

Die Kinder Samuel und Tabita werden in Kürze wiederum die Schulbank drücken, nach Intensiv-Englisch ist die eigentliche Ausbildung angesagt. Die Verwandtschaft, aber auch der Plan, Gäste aus der Schweiz durch Kanada zu führen, stimmt zuversichtlich. Es sollte möglich sein, in Kanada rasch Fuss zu fassen. Die Rolle als Gastgeber, auch für Sprachstudierende, scheint der Familie auf den Leib geschrieben.

 

Dankbarkeit

Heute hat die Familie Sinnadurai das Bedürfnis, danke zu sagen: all den Menschen, die zu ihrem sicheren und würdigen Leben in der Schweiz beigetragen haben. Aber auch die Methodistenkirche, ich und viele andere, haben Grund, Emmanuel und seiner Familie danke zu sagen – für eine wertvolle Lektion gelebter Nächstenliebe und einen erfüllten Auftrag. Emmanuel und seine Familie bleiben mir als gutes Beispiel einer vielfältigen Migration in Erinnerung!

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