Psychologie: Verletzlich werden

In der therapeutischen Arbeit ist die Erfahrung von und der Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit ein zentrales Thema. Voraussetzung für das Gelingen therapeutischer Prozesse ist eine vertrauensvolle Therapiebeziehung, denn Verletzlichkeit ist eine Erfahrung, die tief verunsichern kann: Als Menschen sind wir berührbar, das Leben (be)trifft uns. 

(Lesezeit: 8 Minuten)

Wir kennen das aus eigener Erfahrung: Schwieriges lässt uns nicht kalt und Unbekanntes löst Unbehagen aus. Wir haben biografisch bedingte wunde Punkte, reagieren sensibel auf Mängel, Nöte und Krisen. Und wir sind nicht gefeit vor Verletzungen und Krankheiten. Es gibt so vieles, das wir nicht beeinflussen können. Diese Erfahrungen konfrontieren uns mit unserer Verwundbarkeit und machen die eigenen Grenzen schmerzlich bewusst.

 

Wie sich Verletzlichkeit bemerkbar macht

Wir machen uns verletzlich, wenn wir für uns selber einstehen oder jemanden um Hilfe bitten, wenn wir Nein sagen oder Verantwortung übernehmen, wenn wir etwas Neues ausprobieren und uns unserer Ängste bewusst werden. Wir machen uns verletzlich, wenn wir jemandem unser Vertrauen schenken, wenn wir um Verzeihung bitten oder uns verlieben.

In Momenten der Verletzlichkeit fühlen wir uns bedürftig und schutzlos. Wir sind dann besonders darauf angewiesen, dass Menschen sorgfältig mit uns umgehen. Wir haben etwas nötig – Zuwendung, Lob, Trost, Schutz, Ermutigung –, können aber nie sicher sein, dass wir erhalten, was wir brauchen. Gerade dass wir als Beziehungswesen auf andere Menschen angewiesen sind, macht uns verletzlich.

Verletztlichkeit lädt zum Wachsen ein (Bild: Melanie Tickell auf Pixabay ).

Nirgendwo sonst kommt Verletzlichkeit als Zusammenspiel von Bedürftigkeit und Abhängigkeit besser zum Ausdruck als im Leben eines Neugeborenen. Nicht umsonst gelten die ersten Lebensmonate eines Säuglings als die verletzlichsten und zugleich als prägendste Zeit im Leben eines Menschen. Tatsächlich lernen wir unsere erste Lektion in Selbstfürsorge durch die Art, wie andere für uns sorgen. Unsere Entwicklung ist abhängig davon, wie harmonisch unsere frühen Interaktionen mit unseren engsten Bezugspersonen waren. Kinder, die darauf bauen konnten, dass die Eltern ihre Bedürfnisse gestillt, ihnen Trost und Geborgenheit vermittelt und sie in ihrer Würde geschützt haben, starten mit einem unschätzbaren Vorteil in ihr weiteres Leben: Sie verfügen über eine Art Puffer oder Imprägnierung gegen das Schlimmste, womit das spätere «Schicksal» sie konfrontieren kann.

 

Das eingebaute Alarmsystem

Wir sind Geschöpfe mit einem eingebauten Alarmsystem. Während der Körper über unmissverständliche Signale wie Hunger, Durst, Müdigkeit oder Schmerz auf sich aufmerksam macht, ist die Sprache der Seele leiser, subtiler: Eine bedrängte Seele verschafft sich mit unangenehmen Gefühlen Gehör, sie schlüpft in das Gewand innerer Unruhe oder meldet sich in Form von Schlafstörungen. Viele Krisen liessen sich vermeiden, wenn wir körperliche und seelische Signale ernst nehmen, frühzeitig intervenieren und angemessen darauf reagieren würden. Stattdessen neigen wir dazu, Symptome zu ignorieren. Es fällt uns oft schwer, für wahr zu halten, was sich zeigen will.

Auch psychische Krisen erzählen von unserer Verletzlichkeit. Sie haben Signalwirkung und sind oft eine im wahrsten Sinn des Wortes not-wendige Intervention unserer ungehörten Seele. Wo lange übergangene Symptome uns zum Hinschauen zwingen, wird es ungemütlich. Zugleich kann eine solche Krise der Anfang eines heilsamen Prozesses sein.

Verletzlichkeit hilft zu einem erfüllten Leben

In seinem Buch «Der Klang» schreibt der Geigenbauer Martin Schleske: «Man kann nicht Leben suchen und zugleich Krisen verneinen. Banalität und Lebendigkeit, Gleichförmigkeit und Entwicklung schliessen sich aus.» Ein erfülltes Leben beinhaltet immer auch das Risiko, verletzt zu werden. Ja sagen zum Leben, so wie es ist, bedeutet nicht Resignation, sondern mutige Hingabe an die Wirklichkeit. Wer es wagt, aus der Deckung zu kommen, wird das heilsame Potenzial von Verletzlichkeit entdecken. Wem es gelingt, mit der eigenen Verletzlichkeit Frieden zu schliessen, wird die Erfahrung machen, dass im Wechselspiel von Stärke und Schwäche, von Freud und Leid die Zutaten für Charakter, Tiefe, Weisheit und Mitgefühl versteckt sind. Dabei hängen Verletzlichkeit und Barmherzigkeit eng zusammen: Wer seiner eigenen Menschlichkeit begegnet ist, dem ist nichts Menschliches mehr fremd.

 

Wie Gott unsere Verletzlichkeit sieht

Die Bibel betont, dass Schöpfer und Geschöpf nicht dasselbe sind. Als Geschöpfe sind wir bedürftig und abhängig vom Schöpfer. Während wir diese Lektion täglich neu zu lernen haben, kommt Gott sehr gut mit unserer Bedürftigkeit und Verletzlichkeit klar. Sein Lösungsansatz in 2. Korinther 12,9 mutet fast paradox an: «Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.»

Aus biblischer Sicht sind Stärke, Gesundheit und Unversehrtheit keine Voraussetzungen für Wachstum, und sie sagen nichts über unseren Wert aus. Gott kann unsere Mängel, unsere Verletzungen, unser Versagen fruchtbar machen und uns echte Würde schenken.

Gott ist es auch, der uns in der Versöhnungsarbeit mit uns und unserer Verletzlichkeit zur Seite steht. Er ist in Jesus Christus Mensch geworden. Er hat seine Herrlichkeit verlassen und sich klein und verwundbar gemacht. Letztlich ist auch die Passionsgeschichte eine grosse Geschichte der Verletzlichkeit. Das hat schon Jesaja erkannt: «Er wurde gestraft, damit wir Frieden haben. Durch seine Wunden sind wir geheilt1.» Gerade weil Jesus das Menschsein an Leib und Seele erfahren hat, dürfen wir uns ihm anvertrauen mit allem, was uns beflügelt, bewegt und bedrängt.

 

Die Sorge um die Seele

Die Bibel kennt offensichtlich keine Berührungsängste, wenn es um die Seele und damit verbundene Nöte geht. Gerade in den Psalmen wird die Seele ganz selbstverständlich zum Thema gemacht: Sie wird angesprochen, erkundet, herausgefordert, angehört. Gefühle und Erfahrungswelten werden ehrlich eingestanden, unzensiert beschrieben, in Lob und Klage wortgewaltig zum Ausdruck gebracht. Dieser natürliche Umgang mit dem menschlichen Innenleben bietet aus theologischer und aus psychologischer Sicht ein grosses Potenzial. Die aktive Auseinandersetzung mit Fragen, Sorgen, Ängsten und Nöten und das Ausbreiten dieser Erfahrungen vor Gott ist Seelsorge im besten Sinn. Ein so gelebter Glaube lädt zu authentischem Menschsein ein und weist zugleich auf die Grösse und Treue Gottes hin.

Wegweisende Erkenntnisse gewinnen wir im persönlichen Nachdenken über uns selber, in der Stille, beim Lesen der Bibel oder im Gottesdienst. Zudem bieten authentische Beziehungen einen fruchtbaren Boden zum Wachsen. Wenn die Nöte tiefer gehen, kann seelsorgerliche oder therapeutische Unterstützung ein heilsamer Schritt sein.

 

1 Jesaja 53,5b

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