Hinter jedem einzelnen Flüchtling, der die Schweiz erreicht, steht eine Geschichte. Dies ist nie eine leichte Geschichte, denn es ist nie eine leichtfertige Entscheidung, das eigene Land zu verlassen, das Notwendigste zusammenzupacken und schliesslich dem Ort und dem Haus, wo man gewohnt hat, den Rücken zu kehren. Zudem auch Sprache und Gebräuche hinter sich zu lassen, in denen man sich heimisch fühlte und der Zukunft mehr zu vertrauen als der Vergangenheit und Gegenwart. Niemand flüchtet, weil er Lust dazu hat. Der Schweizer Spitzenfussballer Valon Behrami sagt in einem Interview: «Wenn jemand bereit ist, sich auf solche Gefahren einzulassen, befindet er sich in existenzieller Not. Dann flieht er vor einer Realität, die noch schlimmer, noch gefährlicher ist als die Situation [auf der Flucht]. Diese Menschen befinden sich im Überlebenskampf.»1
Wie reagiert die Schweiz auf diese Menschen? Natürlich mit einem Gesetz – dem revidierten Asylgesetz.
Wie gut ist das neue Asylgesetz?
Zehn Jahre lang dauerten die Arbeiten des Bundes an der Asylreform, die nach der Annahme durch den Souverän am 1. März 2019 in Kraft treten konnte. Ziel der Gesetzesrevision ist eine Beschleunigung der Verfahren. Asylentscheide sollen rascher, idealerweise in weniger als 60 Tagen vollzogen werden. Das ist grundsätzlich begrüssenswert. Die für viele Flüchtlinge oft jahrelange, quälende Wartezeit fällt damit weg, die bisher zudem den Integrationsprozess erschwerte: Wer lernt mit Eifer Fremdsprachen, wenn er keine Ahnung hat, ob er am neuen Ort bleiben kann? Welcher Arbeitgeber lässt sich auf Asylsuchende ein, wenn keinerlei Planungssicherheit besteht?
Aber: Leidet unter der Beschleunigung der Verfahren die Qualität? Eine Recherche der NZZ am Sonntag ergab, dass zwischen dem 1. März und dem 31. Dezember 2019 vom Bundesverwaltungsgericht mindestens vierzig Beschwerden von Asylsuchenden gutgeheissen und die entsprechenden Entscheide des Staatssekretariats für Migration (SEM) aufgehoben wurden.2 Das ist viel, denn hinter jedem Entscheid steht ein menschliches Schicksal. Der Grund für diese Fehlleistung lag darin, dass vor allem bei verletzlichen Personen – etwa bei Menschen mit posttraumatischen Störungen und Kriegstraumata – die medizinischen Sachverhalte ungenügend abgeklärt worden waren. Innerhalb der knappen Verfahrensfristen konnten nicht genügend Ärzte gefunden werden, um vertiefte medizinische Abklärungen vorzunehmen. Hier verspricht das SEM in Zukunft Abhilfe. Claudio Martelli, Vizedirektor des SEM, zieht in Sachen Asylreform wie folgt Bilanz: «Das neue Asylsystem funktioniert noch nicht perfekt, aber es funktioniert.»3
Die meisten Flüchtlinge sind «echt»
Im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre erhielten von den ankommenden Flüchtlingen 58% Schutz in unserem Land, weitere 20% wurden als «Dublin-Fälle» ins Erstaufnahmeland zurückgewiesen, bloss 18% wurden abgelehnt.4 Die Schutzquote liegt also deutlich höher als es die öffentliche Wahrnehmung erwarten liesse. Seit Jahren werden Flüchtlinge im gesellschaftlichen und politischen Diskurs mit negativen Einschätzungen wie Wirtschaftsflüchtlinge oder Scheinasylanten versehen. Die Realität spricht eine völlig andere Sprache. Nicht einmal ein Fünftel der in der Schweiz Ankommenden erhält keine Aufnahme, die Mehrheit ist schutzbedürftig und ein beträchtlicher Teil wird gemäss Dublin-Abkommen mit einem Nichteintretensentscheid (NEE) ins Erstaufnahmeland zurückgewiesen.
Das Binnenland Schweiz nutzt diese Möglichkeit im europäischen Vergleich äusserst konsequent aus. Im Vergleich zu Mittelmeeranrainerstaaten wie Italien oder Griechenland zeugt dieses Verhalten nicht gerade von grosser Solidarität. Die gnadenlose Ausschöpfung des Spielraums des Dublin-Abkommens ist ein Resultat des grossen innenpolitischen Druckes. In weiten Kreisen ist ein Flüchtling zuerst einmal unerwünscht – eine Persona non grata. Die jahrelange Polemik hat offensichtlich Spuren hinterlassen. Unter diesen Vorzeichen wurden in den vergangenen vier Jahren im Durchschnitt 18‘700 Asylgesuche pro Jahr in der Schweiz eingereicht. Das Spitzenjahr 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ist dabei nicht mitgerechnet.5
Nach dem Asylentscheid: rasche Integration, Rückführung oder Verelendung
Das neue Asylgesetz sieht vor, dass Asylsuchende mit Flüchtlingsanerkennung so rasch wie möglich integriert werden und bestmögliche Bedingungen für den Spracherwerb und die Ausbildung erhalten. Das ist begrüssenswert.
Asylsuchende mit einem negativen Entscheid aber werden in Rückkehrzentren platziert, um sie möglichst rasch in ihr Herkunftsland zurückschaffen zu können. Diese Menschen leben unter dem «Nothilferegime», das eigentlich auf maximal drei Monate ausgelegt wurde.
Flüchtlinge im ehemaligen Durchgangszentrum Riggisberg (Bild: Peter Eichenberger)
Um eine Ausreise zu erzwingen, wird eine maximale Repression angewandt: Dazu gehören unzureichende Lebensmöglichkeiten (im Kanton Bern 8 Franken pro Tag für alle Lebenskosten), keine Ausbildung, ein Arbeitsverbot und ein illegaler Status. Haben diese Massnahmen die Ausreise begünstigt? Nein, per Ende 2019 lebten 71% diese Menschen als Langzeitfälle unter diesem Nothilferegime. In absoluten Zahlen sind das 2’287 von total 3’227 Personen.6 Diese Menschen verelenden unter diesen prekären Verhältnissen, darunter überproportional viele Frauen und fast 600 Kinder. Das ist unmenschlich.
Weshalb kehren diese Menschen nicht zurück? Bei einigen – etwa der tibetischen Gruppe – gibt es technische Vollzugsprobleme, bei der eritreischen Gruppe sind die Verhältnisse im Land zu desolat, um eine freiwillige Rückkehr in eine repressive Diktatur zu erwarten. Es ist ein Gebot der Stunde, für Menschen, bei denen weder eine Zwangsrückschaffung möglich ist noch eine realistische Chance für freiwillige Rückkehr besteht, angemessene Lösungen zu finden.
Was heisst das für uns?
Christinnen und Christen haben in dieser Lage genügend Hinweise aus der Bibel, die helfen, politische Lösungen zu finden. Da gibt es die alttestamentlichen Ordnungen über den Umgang mit Fremden in 3. Mose 19,33ff. – alleine im Alten Testament finden sich 53 Appelle, mit Fremden anständig umzugehen.7 Oder dann die Aussagen von Jesus Christus in Matthäus 25,35f und 40.In einem Geheimniswort sagt dort Jesus von sich: «Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen ... Was ihr für einen meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.» Jesus solidarisiert sich also mit den Armen, Kranken, Vergessenen und Fremden. Diese Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel. Wenn sich unsere Kirche auf die Bibel beruft, kann sie nicht anders, als Partei für die Schwachen zu ergreifen. Sie gibt den Stummen eine Stimme. Sie unterstützt die, die sich inmitten unserer Gesellschaft schlecht selber wehren können.
Soll unsere Kirche für Grosse und Mächtige Partei ergreifen? Nein, die Privilegierten haben das nicht wirklich nötig. Sie haben es schon immer verstanden, sich dezidiert für ihre Ziele einzusetzen, wie einmal mehr die Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative zeigt. Eine Kirche aber, die sich auf Jesus Christus beruft, setzt sich entschieden für die Ohnmächtigen, Bedrängten und Fremden ein.
1 Der Bund vom 28. Dezember 2016, S. 2
2 NZZ am Sonntag vom 5. Januar 2020, S. 9
4 https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/statistik/asylstatistik/uebersichten.html
5 https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/statistik/asylstatistik/uebersichten.html
6 https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/berichte/monitoring_sozialhilfestopp.html (Berichte Monitoring Sozialhilfestopp, altrechtliche Fälle, S. 7)
7 https://www.refbejuso.ch/strukturen/oeme-migration/partnerinnen-und-partner/netzwerk-joint-future/jahrestreffen-2019/ (Vortrag/Workshop von Matthias Zeindler am 30.8.2019)
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