Typisch für die sieben folgenden Denk- und Glaubensmuster ist die Tatsache, dass sie einen wahren Kern haben. Sie finden deshalb nicht zu Unrecht ihre christlichen Anhänger. Wenn ein ganzheitlicher christlicher Glaube diese Muster aber nicht in Frage stellen darf, besteht die Gefahr, dass dieser Glaube letztlich verraten wird.
1) Die Angst vor den Medien
Man hört es innerhalb der Kirchenmauern immer wieder: Christen kommen in den Medien nicht vor. Wenn sie trotzdem einmal zum Thema werden, dann nur einseitig mit ihren Pannen und Pleiten oder gar tendenziös als hinterwäldlerische Randgruppe. Wer so denkt, landet schnell bei den Corona-Skeptikern, die gerne pauschal von der «Lügenpresse» reden.
Es hat etwas für sich mit der Absenz der Christen in den Medien. Die Christen wussten lange nicht, wie sie mit den Medien kommunizieren sollten. Und in den Medien gab es nur wenige Christen oder anders gesinnte Journalisten, die etwas vom christlichen Glauben verstanden. Das ist heute anders. In den letzten Jahren haben sich viele Christinnen und Christen zu Journalisten ausbilden lassen. Sie engagieren sich seither kompetent auch in Medien, die an sich selber einen Qualitätsanspruch stellen. Dazu gehört u.a., dass alle Gruppen der Gesellschaft – auch Minderheiten – kritisch, aber fair thematisiert werden. Dort, wo sich die christliche Gemeinde – etwa im Sinne der werteorientierten Ortsentwicklung – konstruktiv und originell in die Gesellschaft einschaltet, ist ihr eine breite Berichterstattung gewiss. Pleiten und Pannen oder eigenartige christliche Muster können und dürfen aber auch von christlich gesinnten Journalisten nicht schön geredet werden. Aber vielleicht gelingt es ja, ein bisschen Verständnis zu wecken.
Leider muss man aber zugeben, dass es diese «Lügenpresse» tatsächlich gibt. Sie tummelt sich in von Interessensgruppen gesteuerten Medien und in den Blasen des Internets. Qualitätsmedien haben den Auftrag, beide und auch unbekannte Seiten einer Frage zur Sprache zu bringen, darunter auch christliche Standpunkte. Qualitätsmedien verdienen deshalb nicht billige Häme sondern unsere Unterstützung, damit sie im Konkurrenzkampf mit der «Lügenpresse» bestehen können.
2) Der Minderheiten-Komplex
«Ich habe noch nie das getan, was die Masse gemacht hat.» Das sagte kürzlich eine wackere Christin zu meiner Frau bei einem Gespräch über das Impfen. Tatsächlich hat sie sich in ihrem Leben immer auf die Seite einer Minderheit geschlagen: bei ihrem Entscheid für den christlichen Glauben, bei der Heirat eines Mannes aus der reformierten Kirche und als Pionierin im Bio-Landbau.
Die Gewissheit, zu einer Minderheit zu gehören, haben die engagierten Christen in unserm Land sozusagen im Blut. Je nach Definition des Christseins bewegt sich ihre Anzahl im Vergleich zur Gesamtzahl der Schweizer Bevölkerung heute im einstelligen Prozentbereich. Vermutlich waren die Christen, die ihren Glauben von Herzen und aus Überzeugung gelebt haben, auch in der Zeit des christlich dominierten Abendlandes nie in der Mehrzahl. Unterdessen gibt es keinen gesellschaftlichen Druck mehr, Christ zu sein. Und wir haben uns an die Zugehörigkeit zu einer Minderheit – zur Gemeinschaft der Heiligen – gewöhnt. Mit dem Mainstream da draussen möchten wir nichts zu tun haben. Oder dann höchstens mit evangelistischen Aktionen.
Das Leben in der Minderheit erfordert Bescheidenheit, Konsequenz und Mut. Wird diese Haltung aber zu einem Muster, zu einem Minderheiten-Komplex, verkennt sie unsern Grundauftrag. Ziel ist nicht der Rückzug sondern das Ausschwärmen. Und damit die Auseinandersetzung mit den Menschen des Mainstreams, ihrem Weltbild und ihrem Glauben. Vielleicht können wir von ihnen ja sogar etwas lernen. Wenn wir dann trotzdem nicht tun, was alle tun, müsste dies zumindest heilsam und vorbildhaft für alle sein.
3) Die Ablehnung der Wissenschaft
Die heutigen Wissenschaften finden oft im Elfenbeinturm statt. Sie sprechen eine Sprache, die wir normal Sterblichen nicht verstehen. Nicht selten verschieben sie mit ihren Erkenntnissen ethische Grenzen. Und die manchmal risikoreiche Frucht ihres Tuns zeigt sich letztlich erst im Ergebnis.
Und es ist so, die Wissenschaften haben die Bibel von A bis Z in Frage gestellt. Die Schöpfung wurde zum Mythos, der Glaube an Gott zur Neurose, der Tod seines Sohnes am Kreuz zum Unglück eines Aufständischen, die leibliche Auferstehung von Jesus Christus zum Weiterleben von guten Ideen und seine Wiederkunft zur Vertröstung auf bessere Zeiten.
Die Bibel stand und steht sozusagen unter wissenschaftlicher Beobachtung. Und das ist gut so. Der Glaube muss sich auch verstandesmässig begründen lassen. Das hat allerdings Grenzen. Auch in der Wissenschaft. Gott kann nie Teil einer Formel sein. Die Auswirkungen des Glaubens an ihn können aber – auch wissenschaftlich – untersucht werden. Deshalb gibt es christlich glaubende Wissenschaftler wie auch solche, die atheistisch glauben oder sich nicht entscheiden wollen, was sie glauben. Für alle gilt: Wissenschaftliches Arbeiten muss hinterfragbar bleiben. Wie auch die Frucht christlichen Tuns. Wer wirklich recht hat, wird sich erst anlässlich der letzten Ernte zeigen1. Deshalb gibt es keine religiösen Gründe, um einer seriösen Wissenschaft grundsätzlich zu misstrauen.
Wissenschaftlich begründete Erkenntnisse – auch die rund um Corona – stehen zudem in einem weltweiten Konkurrenzkampf. Sie können, wenn das wissenschaftlich nachvollziehbar geschieht, auch widerlegt werden. Pharmazeutische Produkte unterliegen, gerade weil man damit viel Geld machen kann, einer strengen Kontrolle, bevor sie frei gegeben werden. Die Langzeitfolgen einer Impfung können aber nur abgeschätzt, aber nicht sicher vorausgesagt werden. Deshalb gilt es bei einer Corona-Impfung, Risiken gegeneinander abzuwägen.
4) Die Gemütlichkeit in der christlichen Blase
In der Informationsgesellschaft werden wir mit immer neuen (und alten) Ideen, Deutungen und Behauptungen eingedeckt. Das können wir alleine nicht mehr bewältigen. Also suchen wir die «Unity»2 – die Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange wir uns nicht in diese Blase (Bubble) einsperren lassen.
Mit der Pluralisierung der Gesellschaft und der Vielfalt unserer (sozialen) Medien stehen wir in der Gefahr, dass wir uns nur noch aus Quellen informieren, die uns den gewünschten Süssstoff und die passende religiöse Färbung liefern, wir stillen unsern Informationshunger mit dem, was unserm Bauch ins Konzept passt. Alle andern Interessengruppen widersprechen sich ja sowieso. Und wenn man Autoritäten nicht glauben will, bleibt nur noch die Bubble-Gemeinschaft, um über Corona auszutauschen.
Störende Informationen müssen dabei draussen bleiben. Nehmen wir mal an, es liesse sich ein christlicher Arzt finden, der die eigene Impfskepsis unterstützt. Das wäre natürlich hoch willkommen! Genau so wie Alternativen zur lästigen Impfung: Vitamin D einnehmen und damit das Immunsystem stärken, Wundermittel aus der Natur wie Artemisia-Kapseln oder -tee oder Ivermectin einsetzen. Dumm nur, dass Laien nicht beurteilen können, ob diese sympathisch sanften Methoden gegen die harte Realität des Covid-Virus ankommen können. Zumindest sollten die Thesen eines solchen Arztes aber im Austausch mit andern ebenso gläubigen Ärzten Bestand haben. Oder sich im wissenschaftlichen Dialog durchsetzen. Um das prüfen zu können, müsste ich aber meine Bubble verlassen.
5) Endzeitliche Verschwörungstheorien
Bekanntlich wurde die Endzeit mit den Ereignissen an Karfreitag und Ostern eingeläutet. Den ersten Christen musste nicht erklärt werden, wer der Antichrist ist. Es war Kaiser Nero mit seiner Verfolgung der Christen. Seither mussten Christen die in den apokalyptischen Texten geschilderten Ereignisse immer wieder am eigenen Leib erfahren, auch wenn sich das Gesicht des Antichristen immer wieder änderte. Da wir noch hier sind, können wir sagen: Die allerletzte Phase mit den Ereignissen rund um die Wiederkunft von Jesus steht noch aus.
Die apokalyptischen Bilder bedürfen der Deutung. Ihr geheimnisvoller Charakter macht sie anfällig für eine Verbindung zu Verschwörungstheorien. Diese Bilder mit heutigen Ereignissen zu verbinden, ist selbstverständlich erlaubt. Die Deutungen müssten aber sorgfältig in den biblischen Gesamtzusammenhang gebracht und dann auch ausserhalb der theologischen Blase besprochen werden. So mag das in Offenbarung 13,16-18 genannte Zeichen aus heutiger Sicht an einen QR-Code erinnern. Den QR-Code in Form eines Covid-Zertifikates mit dieser Stelle in Verbindung zu bringen, ist aber abenteuerlich. Hier geht es ja nicht um die Möglichkeit des Einkaufens oder Nicht-Einkaufens, sondern um den lebensrettenden Schutz vor Krankheit.
6) Die Skepsis gegenüber dem Staat
Der christliche Glaube kann zu Reibungen mit dem Staat führen, insbesondere in einem Staat, der von christlichen Grundsätzen wenig wissen will. Davon können Christen in totalitären Staaten ein Leidenslied singen. Christliche Aufbrüche haben die Frage nach den Kompetenzen des Staates immer wieder neu aufgeworfen. So weigerten sich die Täufer – in unserer Gegend die erste Freikirche der Reformation – einen Eid auf den Staat zu schwören, etwa bei der Einberufung in die Armee. Geprägt von der Friedensbotschaft Christi standen sie Kriegshandlungen sowieso skeptisch gegenüber. Ihr Glaube machte sie sozusagen automatisch zu Staatsfeinden.
Heute haben wir in der Schweiz mit der direkten Demokratie eine Staatsform, die dem Staat möglichst wenig Macht und den Bürgerinnen und Bürgern möglichst viel Freiheit gibt: die Freiheit, die Weisungen des Staates demokratisch zu korrigieren oder sich im Extremfall dem Staat und seinen Weisungen zu widersetzen – mit den entsprechenden Konsequenzen. Die Täufer haben sich dem Staat aus Glaubensgründen widersetzt. Ob die Corona-Massnahmen unserer Regierung auch in diese Kategorie gehören, muss zumindest hinterfragt werden.
7) Die Ansteckung durch den Zeitgeist
Die heutige Postmoderne kennt zwei Haupttrends: die Pluralität und den Individualismus. (Fast) alles ist heute möglich und erlaubt – und jeder soll tun und lassen, was er will. Da wird etwas von der christlichen Freiheit spürbar. Gott befreit uns von religiösen und gesellschaftlichen Zwängen. Er lädt uns aber auch dazu ein, seine menschenfreundlichen ethischen Weisungen zu beachten und zu leben. Sie sind zusammengefasst im Dreifachgebot der Liebe3.
Christen haben deshalb in den bisherigen Epidemien immer einen Trend gegen den Trend gesetzt. In den mittelalterlichen Pestzügen ergriffen sie nicht die Flucht, sondern kümmerten sich unter dem Einsatz des eigenen Lebens um die Erkrankten. Bei der Bekämpfung der Lepra waren und sind Missionsärzte an vorderster Front tätig. Einige von ihnen entwickelten neue sichere Behandlungen. Leprakranke müssen sich seither nicht mehr den oft gefährlichen heidnischen Praktiken unterwerfen: So wurden beispielsweise Lepra-Hautflecken von Medizinmännern mit einem heissen Eisen «weggebrannt».
Genau hier erwarte ich auch heute die Christen: Zuvorderst an der Front in der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Erfreulicherweise gibt es in unsern Spitälern viele Christinnen und Christen, die alles geben, um möglichst viele Menschen zu retten, auch wenn die meisten von ihnen wegen ihrer Impf-Weigerung auf der Intensivstation liegen. Von daher ist es irritierend, wenn berufstätige Christinnen und Christen – etwa in der Spitex oder in Altersheimen – sich einer Impfung verweigern. Oder wenn sich Christen mutlos auf die Positionen der Impf-Skeptiker zurückziehen. Das ist zu wenig!
Bilanz
Trotzdem: Ein umfassender Impfzwang wäre ethisch höchst bedenklich. Schliesslich wird mit einer Impfung in unsere körperliche Integrität eingegriffen. Sie bedarf deshalb unserer Zustimmung. Auf der andern Seite haben wir aber auch nicht das Recht, unsere Mitmenschen mit Corona anzustecken. Mit welcher Wahl wir wohl die Krone (Corona) des Lebens4 gewinnen werden? Das müssen wir an dieser Stelle offen lassen. Sicher aber ist: Mit den Fragen rund um Corona wird die Glaubwürdigkeit der Christen aufs Spiel gesetzt.
1 siehe u.a. in Matthäus 13
2 der Verhaltensforscher Robert Cialdini («Der Bund» vom 25.9.21)
3 Lukas 10,27
4 Offenbarung 2,10
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